Atem-Bewusstsein: Der Schlüssel zu einer tiefen Meditation

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Lesedauer 6 Minuten

Von Swami Rama

Buchauszug aus seinem Buch
Die Wissenschaft vom Atem – Eine praktische Einführung in Atmung, Atemachtsamkeit und Pranayama

Das Atem­bewusstsein ist ein zuverlässiger Leitfaden für die Erfahrung der höheren Bewusstseinsebene und für die einpünktige Fokussierung des Geistes. Es bereitet den Meditierenden auf die Anwendung von Sushumna vor.

Sushumna

Obwohl das Wort Sushumna nicht in andere Sprachen übersetzt werden kann, bedeutet es meiner Ansicht nach den Geisteszustand, der ungestört und freudig ist und der auftritt, wenn der Atem an­fängt, frei und gleichmäßig durch beide Nasenlöcher zu fließen. Ein solcher mentaler Zustand ist notwendig, damit der Geist in tie­fere Bewusstseinsebenen reisen kann, denn wenn der Geist nicht in einen Zustand der Freude gebracht wird, kann er nicht stabil blei­ben, und ein instabiler Geist ist überhaupt nicht fähig zur Medita­tion. Eine andere Yoga-Richtung, welche das Erwecken von Kundalini lehrt, sagt, dass ohne das Erwecken von Sushumna eine tiefe Medita­tion und das Erwecken von Kundalini unmöglich sind. Es gibt nur drei Techniken für die Anwendung von Sushumna: Erstens, die Konzen­tration auf die Verbindung zwischen den beiden Nasen­löchern; zweitens, Pranayama-Atemübungen während der Anwendung von Jalandhara Bandha; und drittens, die Meditation über das System der Chakras.

Der Prozess des Erweckens von Sushumna ist nur möglich, wenn man anfängt, die Stille zu genießen.

Der Prozess des Erweckens von Sushumna ist nur möglich, wenn man anfängt, die Stille zu genießen. Wenn man an einem ruhigen, friedlichen Ort in einer bequemen, stabilen Haltung sitzt und wenn keinerlei Zittern des Körpers als Störung auftritt, kann man be­ginnen, über den Atemfluss zu meditieren. In dem Moment, in dem man es tut, wird man sich vier Unregelmäßigkeiten im Atem bewusst: Erstens, Flachheit, zweitens Atemstöße, drittens Atemgeräusche und viertens das, was am meisten stört, die Pause zwischen Einatmen und Ausatmen.

In den Schriften wurde viel über diese Pause gesprochen, aber die Praxis macht einem zunehmend bewusst, wie wichtig dieses Thema ist. Wenn man anfängt, über den Atemfluss zu meditieren, lenkt die Pause den Geist ab. Einige der Schriften sagen, dass die Pause er­weitert werden kann – andere sagen, dass sie weggelassen werden kann. Am Anfang muss man jedoch die Übungen des Pranayama und später die Übungen des Zurückhalten des Atems unter der Anleitung eines kompetenten Lehrers durchlaufen. Diejenigen, die keine Pranayama-Übungen machen wollen, können immer noch meditieren, aber ohne Atemwahrnehmung ist ein tiefer Zustand der Meditation unmöglich.

Im Atembewusstsein wird die Dauer der Ein- und Ausatmung mental sorgfältig beurteilt, und der Geist folgt der Bewegung des Atems genau und innig. Hier liegt der Unterschied zwischen Atemübungen und Atembewusstsein. In Atemübungen wird einem beigebracht, die Menge der eingeatmeten und ausgeatmeten Luft zu zählen, aber im Atembewusstsein geschieht dies nur mental. Es wer­den keine Finger verwendet, um die Nasenlöcher zu schließen.

Der Unterschied zwischen Atembewusstsein und Pranayama

Durch das Atembewusstsein wird die Kraft der Aufmerksamkeit ge­stärkt, und Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zur Meditation. Im Atem­bewusstsein gibt es keine äußere Ablenkung, und die Aufmerk­samkeit wird nicht aufgezehrt. Wir sprechen hier nicht über Atem­übungen – das Atembewusstsein ist eine fortgeschrittene Technik! Sie entsteht erst, nachdem man die verschiedenen, zuvor (im Buch) beschrie­benen Atemübungen praktiziert hat. Das Atembewusstsein ist ent­schei­dend für jeden, der die höheren Techniken der Meditation erlernen möchte.

Atem: Die Brücke zwischen Körper und Geist

Der Atem ist eine Brücke zwischen Körper und Geist. Fortge­schrittene Yogis stellen fest, dass der Atem wie ein Thermo­meter ist, das die Bedingungen des Geistes und den Einfluss der äußeren Um­gebung auf den Körper erfasst. Wer sein Atemverhalten studiert hat, kennt auch sein mentales und körperliches Verhalten. Das eigene Leben wird in diesem Bewusstsein mehr und mehr von der Kontrolle der Svaras (den Wellen des Lebens) beeinflusst und be­stimmt.
Das Verhalten des Atems kann auch vor Krankheiten warnen. Wenn der Körper beispielsweise an Fieber leidet, beginnen sich die Nasenlöcher ungewöhnlich zu verhalten. Eines davon kann beispiels­weise entweder zu stark aktiv sein oder für längere Zeit blockiert werden. In einem solchen Zustand funktioniert das Atmungssystem nicht normal. Die Lunge, das Herz und die verwandten Systeme sind gestört, und der Geist verliert sein Gleichgewicht. Fortge­schrittene Yogis nutzen ihr Atemverhalten, um die Leistungsfähigkeit ihres Geistes und Körpers zu beobachten, und sie kontrollieren das Verhalten ihres Atems durch verschiedene Übungen.

Der Atem und der Geist sind voneinander abhängig. Wenn man den Atem zurückhält, beginnt sein Geist, einpünktig-fokussiert zu werden. Wenn der Atem unregelmäßig und ruckartig ist, wird der Geist zerstreut. Nach dem Erreichen einer stabilen Haltung ist die Meditation über den Atem oder das Atembewusstsein selbst­verständlich.

Das Atembewusstsein stärkt den Geist und erleichtert es ihm, nach innen zu gelangen. Wenn der Geist beginnt, dem Fluss des Atems zu folgen, wird einem die Realität bewusst, dass alle Geschöpfe der Welt den gleichen Atem atmen. Es gibt dann eine direkte Verbindung zwischen uns und dem Zentrum des Kosmos, das allen Lebewesen Atem gibt. Das ist eine lebendige Philosophie. Solange das Zentrum oder die lebendige Einheit im menschlichen Leben Prana – Lebenskraft – durch den Atem erhält, wird die Körper-Geist-Beziehung aufrechterhalten. Wenn diese Kommuni­kation unterbrochen wird, versagt der bewusste Geist, und der Körper wird von der inneren Einheit des Lebens getrennt. Diese Trennung wird als Tod bezeichnet.

Ein einpünktig-fokussierter Geist geht weiter und über Atembewusstsein hinaus

Verschiedene Schulen empfehlen verschiedene Objekte, um den Verstand einpünktig-fokussiert werden zu lassen. Diese sind sowohl konkret als auch abstrakt. Es können z.B. Klangsilben, ein Mantra oder eine Visualisierung sein, aber keines dieser Objekte ist auf lange Sicht ohne Atembewusstsein hilfreich. Es ist daher für Anfänger ratsam, die Gewohnheit des Atembewusstseins zu entwickeln und sich keine Sorgen um irgendeinen anderen Gegenstand zu machen, in dem der Geist ruhen könnte, denn Atembewusstheit ist ein sehr natürlicher und wesentlicher Schritt, um den höheren Zustand der Meditation zu erreichen.

Meditation ist der anhaltende Zustand des einpünktig-fokus­sierten Zustandes des Geistes. In tiefer Meditation ist der einpünktig-fokussierte Geist in der Lage, durch die Schichten des bewussten und unbewussten Geistes in den überbewussten Zustand zu gelangen. Dieser Durchbruch wird Samadhi genannt. Wenn man dies erreicht, ist man von jeder Bindung befreit und überwindet die Grenzen von Zeit, Raum und Kausalität. Der Mikrokosmos dehnt sich zum Makrokosmos aus, so wie ein Tropfen Wasser mit dem Ozean verschmilzt und zum Ozean wird. Der individuelle Atman ist mit dem kosmischen Brahman vereint und erreicht eine voll­ständige Identität mit ihm. Ein derartiger Mensch hat das Reich Gottes in sich selbst gefunden und die ultimative Freiheit gewonnen – die Freiheit von der endlosen Kette von Geburt und Tod. Die Evo­lution des Menschen zu Gott ist damit abgeschlossen.

 

Das Buch von Swami Rama „Die Wissenschaft vom Atem – Eine praktische Einführung in Atmung, Atemachtsamkeit und Pranayama“ erschien 2019 als deutsche Neuübersetzung als Softcover im Agni Verlag. Du erhältst das Buch im Online-Shop des Agni Verlags, über unseren Amazon Verlagsshop oder im gutsortierten örtlichen Buchhandel. Die PDF Flipbook-Vorschau zu „Die Wissenschaft vom Atem“ findest Du auf der Buchseite im Agni Verlag Webshop.

Swami Rama
Swami Rama

Swami Rama (1925-1996) ist einer der großen Weisen, Lehrer, Autoren und Humanisten des 20. Jahrhunderts, sowie der Gründer des Himalayan Institutes (USA) und des Himalayan Institute Hospital Trusts (Indien). Geboren in Nordindien, wurde er von frühester Kindheit an von Bengali Baba, einem Meister aus dem Himalaya, aufgezogen. Unter der Leitung seines Meisters reiste er von Kloster zu Kloster und studierte bei einer Vielzahl von Heiligen und Weisen im Himalaya, einschließlich seines Großmeisters, der in einer abgelegenen Region Tibets lebte. Zusätzlich zu diesem intensiven spirituellen Training erhielt Swami Rama eine höhere Ausbildung in Indien und Europa. Von 1949 bis 1952 hatte er die angesehene Position des Shankaracharya von Karvirpitham in Südindien inne. Danach kehrte er zu seinem Meister zurück, um sich in seinem Höhlenkloster weiterzubilden, und schließlich kam er 1969 in die Vereinigten Staaten, wo er das Himalayan Institute gründete. Sein bekanntestes Werk, Mein Leben mit den Meistern des Himalayas, enthüllt die vielen Facetten dieses einzigartigen Adepten und zeigt seine Verkörperung der lebendigen Tradition des Ostens.

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