Die 14 Zustände, die uns die Lebensenergie entziehen – und der erste Schritt, uns aus ihrem Würgegriff zu befreien
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Von Michael Nickel
Lass uns ein wenig mit Zahlen und Zuständen weiterspielen. Letzte Woche haben wir uns mit den 18 Kategorien des Friedens aus dem Sri Vidyarnava Tantra beschäftigt. Wenn es so viele Arten oder Aspekte des Friedens gibt, muss es dann nicht auch etliche verschiedene Aspekte geben, die uns den Frieden rauben? – So ist es! Klingt logisch und wenn sich Yogis über das unterhalten, was uns den Frieden raubt, werden dabei regelmäßig die fünf Kleshas aus Yoga Sutra 2.3 – 2.9 zitiert:
- Avidya – die Unwissenheit über unser wahres Selbst.
- Asmita – die Identifikation mit etwas, bzw. unsere Selbstidentifikation im Bezug auf Äußeres und Inneres.
- Raga – Vorliebe, Zuneigung zu etwas.
- Dvesha – Abneigung gegen etwas.
- Abhinivesha – Die Angst vor der Vergänglichkeit und dem Sterben.
Wer mich kennt, der weiß, dass ich jetzt stundenlang über den letzten Punkt – Abhinivesha – sinnieren und philosophieren könnte. Aber darum soll es gar nicht gehen. Wie so oft im Yoga Sutra handelt es sich bei den Kleshas um übergeordnete Konzepte, die auf den ersten Blick abstrakt erscheinen, weil sie im größtmöglichen Zusammenhang des menschlichen Geistes philosophisch betrachtet werden. Doch konkreter wird es wieder einmal, wenn wir im Zusammenhang mit den Kleshas in die tantrische Philosophie schauen. Das Netra Tantra etwa listet 14 psychische Zustände auf, die uns den Frieden rauben, weil sie eher dysfunktional sind. Diese wollen wir heute einmal näher betrachten. Ganz im Sinne von: „Kenne Deinen Feind“ … Selbst wenn er im Innern lauert und viel mit Punkt 1 von oben zu tun hat: Avidya, der Ignoranz uns selber gegenüber. Doch der Reihe nach …
Das Netra Tantra ist eine etwa 1200 Jahre alte Schrift, stammt also, wie das letzte Woche im Mittelpunkt stehende Sri Vidyarnava Tantra, aus der philosophischen Hochzeit des frühen indischen Mittelalters, wenn es auch deutlich früher seinen Weg aus der mündlichen in die schriftliche Tradition fand. Das Netra Tantra spielt besonders im Kaschmirischen Shivaismus eine Rolle und dreht sich im Kern um eine besondere Form des Maha Mrityunjaya Mantra – ein Heilmantra, dessen vedische Variante weithin bekannt ist. Und wie das eben so ist: Wo über Heilung gesprochen wird, da müssen eben auch erst einmal die dyfunktionellen Zustände benannt werden. Die folgende Interpretation der vierzehn Zustände, welche das Netra Tantra bildhaft benennt, stammt von Pandit Rajmani Tigunait. Wenn man es genau nimmt, dann sind es wiederum 18 Zustände, denn der erste wird gleich vierfach präzisiert.
Vierzehn Zustände, die uns den Lebenssaft entziehen
1 – Bhuta – Vergangenheit; Geist; tot. Gegenwart, die von nutzlosen Erinnerungen an die Vergangenheit heimgesucht wird; Verweilen in den Erinnerungen von Menschen und Dingen, die bereits tot sind. Bhuta ist gekennzeichnet durch vier untergeordnete Zustände:
a – Shunya – Leiden an Leere, Einsamkeit, Ziellosigkeit; das Unvermögen, aus der inneren Leere herauszukommen; das Unvermögen, einen Sinn zu finden; das Füllen der Gegenwart mit bedeutungslosen Inhalten der Vergangenheit; das Unvermögen, die Trauer zu einem Ende zu bringen; das Unvermögen, sich über die Gefühle von Bedauern und Rache zu erheben.
b – Kupa – Brunnen; Zelle; Grube; die Räume unseres Körpers, unseres Geistes und unserer Sinne – die Zellen, Gewebe und Organe unseres Körpers – mit unerwünschten Abfallstoffen füllen; sich damit beschäftigen, unsere üblen Gedanken, Reden und Handlungen gedankenlos und rücksichtslos in den Räumen anderer und in unseren eigenen Räumen abzuladen.
c – Ekavriksha – ein einsamer Baum; ein Baum, der unabhängig steht; ein Baum ohne jegliche Interaktion mit anderen Bäumen; ein Baum, der sich nicht mit dem Rest der Bäume im Garten der Beziehungen verbindet. Wir verschwenden unsere Zeit und Ressourcen, um den Baum des Lebens mit den giftigen Materialien der Vergangenheit zu düngen und zu bewässern.
d – Chattvara – Kreuzungen; in den Kreuzströmen der eigenen vergangenen Konditionierungen gefangen sein, während man versucht, eine Entscheidung über den zukünftigen Verlauf des Lebens zu treffen.
2 – Yaksha – Unkontrollierbar verzerrte Kraft des Geistes, die Halluzinationen erzeugt; stärkster Charakterzug der eigenen Persönlichkeit; tief verwurzelte Gewohnheiten; Tendenzen, welche die Wahrnehmungskraft von Buddhi (die Kraft von Intellekt und Intuition) blockieren und uns zwingen, die Dinge auf verzerrte Weise wahrzunehmen; unkontrollierte Verhaltensweisen; Besessenheit; zwanghaftes Verhalten; Zynismus; psychologische Kräfte und ihre Funktionen, welche sich der bewussten Kontrolle entziehen; Anhaftung, die so stark und allgegenwärtig ist, dass man nicht einmal merkt, dass man die Dinge durch die Linse der Anhaftung sieht und man daher nicht erkennt, dass es ein Problem gibt.
3 – Graha – Unfähigkeit los zulassen; Angewohnheit, immer wieder über dieselbe Sache nachzudenken und zu reden; Angewohnheit, sich so stark zu sorgen, dass die Person unbewusst nach Dingen sucht, über die sie sich Sorgen machen kann; die Angewohnheit, sich zu sorgen, ist so stark, dass sie ein bestimmendes Merkmal der eigenen Persönlichkeit ist.
4 – Unmada – Verrücktheit; der kombinierte Impuls von Kama (im Sinne eines Verlangens) und Krohda (Zorn), der so tief und so intensiv ist und so unbewusst und unkontrolliert von innen heraus fließt, dass die Person keine Kontrolle über ihre Zunge hat und beginnt, den Inhalt ihres Geistes in der Außenwelt zu sehen.
5 – Shakini – Tendenzen, die uns zur Heuchelei zwingen; die Kraft hinter der Doppelmoral; unbewusster Impuls, mehr als eine Maske zu tragen; Doppelgesichtigkeit; hinterlistige Tendenzen, um andere zu verletzen und zu schädigen und um das eigene egoistische Motiv zu erfüllen.
6 – Yogini – Leitende Kräfte der Chakren im menschlichen Körper, die durcheinander geraten sind.
7 – Bhagini – Verzerrung und Ungleichgewicht im Energiefeld unseres Körpers und unserer Sinne, die sich primär aus der höheren Realität von Brahmi (geprägt von einer hochentwickelten Intelligenz und Weltanschauung), Kaumari (geprägt von Unschuld, Reinheit und Einfachheit) und ähnlichen Kräften entwickelt haben.
8 – Rudra Mata – Verzerrung und Ungleichgewicht in den verschiedenen Manifestationen der pranischen Shakti wie Brahmi, Kaumari und ähnlichen Kräften.
9 – Davi – Verzerrung und Unausgewogenheit in der Kraft des Intellekts und der Unterscheidungskraft, die einem sonst helfen, subtile, oder gar „verbotene“ Wissenschaften und Praktiken zu enträtseln.
10 – Damari – Verzerrung und Unausgewogenheit im selbst-offenbarenden Feld der Intelligenz, die einem sonst hilft, die Offenbarung von Mantras zu empfangen, die es dem Geist erlauben, in offenbartes Wissen einzutauchen.
11 – Rupika – Tief verwurzelte, kränkende Tendenzen, die uns zu mentaler, verbaler und physischer Gewalt veranlassen.
12 – Apasmara – Unkontrollierte mentale Ausbrüche, die so intensiv sind, dass die Reaktion des Gehirns und des Nervensystems darauf die physische Kapazität weit übersteigt.
13 – Pishacha – Suizidale Tendenzen.
14 – Brahmarakshograha – Karmische Eindrücke, die von Handlungen gegen das eigene Gewissen herrühren und so stark sind, dass die Person sich selbst nicht verzeihen kann, reumütig bleibt und sogar nach dem Tod ruhelos umher wandert; in einem solchen unversöhnlichen, reumütigen Samskara gefangen zu sein, wird als Brahmarakshograha definiert – besessen von einem Dämon, der aus den Überresten des eigenen Gewissens hervorgeht.
Quelle: verschiedene Vorträge und Buchbeiträge von Pandit Rajmani Tigunait
Mehr als die Psychoprofile von Serien-(Anti-)Helden
Uff! Hört sich das nicht an, wie die gesammelten Elemente der Psychoprofile einiger Haupt- und Nebenfiguren aus diversen Streaming-Serien und Filmen, die wir uns auf dem Sofa regelmäßig antun? – Ich weiß ja, Du tust das nicht – aber trotzdem weißt Du, wovon ich rede … Nun lies doch die Liste noch ein zweites Mal durch und frage Dich offen und ehrlich: „was haben diese Zustandsbeschreibungen mit mir zu tun?“ – Du wirst Deine persönlichen aha-Momente erleben, so sicher wie das Amen in der Kirche. Denn jeder, der schon einmal an den Rand seiner psychischen Belastungsgrenze gekommen ist, wird das eine oder andere aus der Liste wiedererkennen. Ja – dies sind die Geister, die in uns stecken. In jedem von uns. Mal mehr und mal weniger stark. Doch die Tendenzen sind da. Und so müssen wir uns nicht wundern, wenn es uns manchmal vorkommt, als würde uns die gesamte Energie entzogen werden.
Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung
Dieses so banal wirkende Sprichwort weist uns den Weg. Und ich weiß, wovon ich spreche, denn ich stand vor über einem Jahrzehnt am Rande eines exzellent zusammengebrauten Burnouts. Hätte man mir damals diese Liste als Checkliste vorgelegt, hätte ich wohl so manches davon abgehakt. Doch gerettet haben mich zwei Dinge: erstens, ich wurde mir bewusst darüber, dass solche Zustände in mir vorhanden waren und zweitens führten mich ein paar Häppchen Yoga-Philosophie im Kontext der wöchentlichen Yogastunde zur tantrischen Yoga-Philosophie und zur Meditation. Und wie sagt uns Yoga Sutra 2.11 so schön: „Die mit den Leiden (den Kleshas) verbundenen mentalen Tendenzen können durch Meditation zerstört werden.“
Doch auf diesem Weg der „Zerstörung“ dieser unsäglichen Tendenzen oder oben genannten Zustände brauchen wir am Besten einen inneren Freund, der seine beschützenden Hände über uns ausbreitet. „So was gibt es nicht!“, sagst Du jetzt vielleicht. – „Doch!“, sage ich und hinter mir tönt zugleich der Chor der alten Yogi-Meister: „Mananat trayate iti mantrah!“ – „Das, was den Geist davor beschützt und ihn daraus befreit, sich im Kreis zu drehen, ist Mantra!“ – Also das Wort als Freund, der inneren Halt gibt und zugleich unsere angegriffenen mentalen Bereiche an die Hand nimmt, diese vor weiteren Abstürzen in die dysfunktionalen Selbstgeißelungen der oben genannten Tendenzen schützt und uns von daraus befreit.
Positivität ist der Kern unserer inneren Freunde
Das soll funktionieren? – Ja! Denn ganz egal, ob man an Mantras glaubt oder nicht, eines gilt ganz sicher und wird sowohl vom alten Gesetz von Karma, vom Yoga Sutra und auch von der modernen Psychologie bestätigt: Das, was wir in unseren Geist geben und dort lange genug im Kreis laufen lassen, das programmiert sich ein und kommt – ob wir es wollen oder nicht – immer wieder in den Vordergrund und beschäftigt uns. Warum also nicht ein Mantra aus einer spirituellen Tradition der Welt als freundlicher Gedanke, der immer wieder kommt? Mantras, die allesamt mit positiven Philosophien und konstruktiver Weltsicht verbunden sind. Und genau diese Positivität, die in der Tiefe der Bedeutung meditativer Mantras steckt, ist es, was sie zu unseren besten, inneren Freunden macht. Wann triffst Du also die Wahl eines besten inneren Freund?
Herzlichst
Dein Michael