Die Kunst, nur die Milch aus dem Wasser des Flusses des Lebens zu trinken
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Von Michael Nickel
Die Yoga-Philosophie bringt immer und immer wieder zum Ausdruck, dass wir – so schwierig uns das manchmal auch scheinen mag – die Meister unseres Geistes und damit unseres direkten „Schicksals“ sind. Es ist also nicht anders herum, auch wenn wir im Leben oft handeln, als sei der Geist unser Meister und das „Schicksal“ vollkommen von außen bestimmt. Wir brauchen wieder und wieder die Erinnerung, dass wir die Wahl haben, was wir von außen annehmen – ja sogar die Wahl, was wir von dem Annehmen, was unser Geist täglich „ersinnt und erspinnt“. Swami Rama gießt dies in eines meiner liebsten Bilder, das zutiefst bedeutungsvolle vedische Symbol des Schwans:
Dem Schwan wird die Fähigkeit zugeschrieben, aus einer Mischung von Milch und Wasser nur die Milch herauszutrennen und nur diese zu trinken. In ähnlicher Weise ist diese Welt eine Mischung aus zwei Dingen: dem Positiven und dem Negativen. Der weise Mensch wählt und nimmt das Positive und lässt das Negative zurück.
Swami Rama
(aus Mein Leben mit den Meistern des Himalayas)
Diese Aussage und dieses Bild ist an sich schon wunderschön und ermutigend, es dem Schwan gleich zu tun: Ganz egal, in welcher Mischung der Fluss des Lebens daherkommt, lass uns die Milch herausfischen, das was für uns positiv und konstruktiv ist. Aus Sicht der vedischen Philosophie, auf der die später entstandene Yoga-Philosophie gründet, trägt der Lebensstrom vier wesentliche Aspekte oder herausragende Eigenschaften in sich:
- Dharma – „Pflichterfüllung“ oder „Schicksal“, im Sinne dessen, dass wir als Mensch unser Leben in der Weise konstruktiv „erfüllen“ müssen, die vollkommen zu unserer Persönlichkeit passt, mit der wir zur Welt gekommen sind.
- Jnana – „das reine Wissen vom Selbst“, im Sinne dessen, dass jederzeit das Wissen, wer oder was wir wirklich sind offen in uns liegt. Wir müssen lediglich den Blick nach innen wenden, um unseren positiven Wesenskern zu erfahren und zu erkennen.
- Vairagya – „Nicht-Anhaftung“, in dem Sinne, dass wir allem, was der Fluss des Lebens sonst noch mit sich bringt, mit einer liebevollen Akzeptanz entgegentreten, ohne uns an etwas zu klammern, sei es in Zuneigung oder in Ablehnung (und ja, wir klammern uns auch an unsere Abneigungen, siehe dazu das Gedankenfutter von letzter Woche.)
- Aishvarya – „Das Höchste“, „Reichtum“ oder „über allem stehende Macht“, in dem Sinne, dass der Lebensstrom uns jederzeit etwas zuträgt, dass uns grenzenlose Kraft verleiht. Man kann diesen Punkt ganz verschieden interpretieren, je nach der eigenen Lebensphilosophie, der eigenen Spiritualität oder gar Religiosität. Ein religiöser Mensch mag mit diesem Wort ausdrücken, dass der Lebensstrom die grenzenlose Macht Gottes enthält. Ein Yogi sagt dagegen mit diesem Wort, dass die unbändige intelligenten Lebensenergie als Wirkprinzip von Prana und mit diesem der physische Atem unablässig zu uns strömt und uns erfüllt. Ohne diese Lebensenergie, ohne unseren Atem sind wir nichts. Mit dieser Energie und mit unserem Atem sind wir alles! Erst diese Energie und unser Atem ermöglicht uns, nach den Sternen zu greifen, wie es der Mensch seit zehntausenden von Jahren tut – oder etwas bescheidener ausgedrückt: als Mensch immerzu die Positivität zu wählen, an eine bessere Welt zu glauben und konstruktiv zu dieser Welt beizutragen – und sei es „nur“, indem wir positive Gedanken wählen. Was sich so bescheiden anhört ist in Wahrheit der Kern einer Gesellschaft der Wertschätzung und des konstruktiven Zusammenlebens. Brauchen wir davon nicht viel mehr?
Wenn Du diese vier Aspekte betrachtest, macht es für Dich dann Sinn, dass die Menschen in Indien jeden Tag drei Schluck Wasser des Flusses Ganga trinken und dann dreimal in die Fluten eintauchen? – Ganga ist für die indische Kultur der verkörperte Strom des Lebens und jeder andere Fluss, alles fließende Wasser in der Natur, kann in diesem Sinne als „Ganga“ angesehen werden. Auch wenn dieses Ritual in Indien stark religiös überprägt worden ist und die wenigsten Menschen sich dort diesen vier Aspekten des Lebensstroms bewusst sein mögen: Der Ursprung stammt aus der zu Grunde liegenden vedischen Weltsicht.
Für mich ist dies ein wunderschöner Gedanke: Jeden Tag einmal innerlich mit dem Strom des Lebens Verbindung aufzunehmen, ihn liebevoll anzuerkennen und ihm die Ehre zu erweisen und sich dann von diesem positiven Lebensstrom mit seinen Eigenschaften durch drei kleine Schlucke „innerlich“ vollkommen erfüllen zu lassen und sich „äußerlich“ durch dreimaliges Eintauchen reinwaschen zu lassen von aller Negativität, die immer wieder an uns haftet. Und das alles nur im Geist, in einer Meditation oder einer kleinen Kontemplation, mit der wir das Leben als etwas positives feiern und uns selbst als etwas anzuerkennen, das im Innern nach Positivem strebt.
Fühle Dich also heute im Herzen ermutigt, der Schwan zu sein, der die Milch der Positivität vom trüben Wasser der „Negativität“ trennt und nur das Positive in sich aufnimmt! Sei ermutigt, im Innern das Positive in der Welt zu feiern und beobachte, wie Du dann etwas ausstrahlst, was „die Macht der Positivität, die über allem steht“ in sich transportiert, ohne dass Du dies kontrollieren willst oder dem anhaftest. In diesem Sinne: Viel Freude beim Freude fließen lassen!