Die Wissenschaft von Mantra
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Von Swami Rama
Wer meditiert, will sein Innenleben erforschen, jene unbekannten inneren Ebenen seines Wesens. Denn das Ziel der Meditation ist es, sich des inneren Bewusstseinszentrums bewusst zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Meditierende eine systematische und methodische Technik anwenden, um immer tiefere Ebenen der inneren Erfahrung zu erreichen.
Bei einem solchen Ansatz müssen die Meditierenden zunächst die Funktionsweise ihres physischen Körpers beruhigen und ausgleichen. Als Nächstes müssen sie den Atem zur Ruhe bringen. Und dann beginnen sie damit, den Geist still werden zu lassen. Schließlich versuchen sie, über alle Ebenen des bewussten und sogar des unbewussten Geistes hinauszugehen und sich in ihrer wesentlichen Natur zu verankern.
Diese innere Erkundung ist nicht mit der Art zu vergleichen, wie wir die äußere Welt betrachten, wenn wir die Dinge um uns herum untersuchen. Wir alle haben von unseren Eltern und in der Schule gelernt, die Objekte dieser Welt zu erforschen und zu studieren, doch diese erlernten Techniken helfen uns nicht dabei, die innere Welt zu erkunden. Dafür müssen wir die präzise und genaue Wissenschaft der Meditation anwenden, sonst verschwenden wir nur unsere Zeit und erreichen nie unser Ziel.
Meditation oder Dhyana ist ein auf einen Punkt gerichteter Zustand der inneren Konzentration, der mühelos für eine gewisse Zeit aufrechterhalten wird.
Das Wort „Meditation“ wird in der modernen Welt zu locker und ungenau verwendet. Es geht nicht darum, zu träumen, zu phantasieren oder den Geist umherschweifen zu lassen und sich selbst zu überlassen oder in vergangene Pfade oder Gewohnheitsmuster zu reisen. Die Praxis der Meditation ist eine exakte und präzise Technik, um alle Ebenen von uns selbst zu ergründen und schließlich das Zentrum des Bewusstseins im Inneren zu erfahren. Sie ist kein Teil irgendeiner Religion, sondern eine Wissenschaft, was bedeutet, dass dieser Prozess einer bestimmten Ordnung folgt, bestimmte Prinzipien hat und Ergebnisse hervorbringt, die überprüft werden können. Meditation oder Dhyana ist ein Zustand der inneren Konzentration, der mühelos eine Zeit lang aufrechterhalten wird.
Das Ziel der Meditation ist es, einen Zustand jenseits der Ebenen des Denkens, Fühlens und Analysierens zu erfahren. Um dies zu erreichen, müssen wir einen Zustand der Stille und der Konzentration schaffen, damit der Geist still wird. Wenn der Geist still ist und uns nicht mehr ablenkt, vertieft sich die Meditation und wir erreichen schließlich Samadhi, das Gewahrsein des höchsten Bewusstseinszustandes.
In der alten Tradition der Meditation ist die Wissenschaft des Mantras ein präziser und technischer Prozess, den Meditierende befolgen, um ihr Ziel zu erreichen. Ohne den Nutzen eines Mantras wäre es ihnen nicht möglich, diese innere Pilgerreise zur tiefsten Ebene ihres Seins zu unternehmen. Deshalb wird das Mantra entweder als Floss oder als Brücke beschrieben, auf der Meditierende den Fluss des Lebens überqueren und schließlich das andere Ufer erreichen – den Zustand des höchsten Bewusstseins. Ohne die Hilfe dieser mächtigen Technik wäre unsere Reise sinnlos, weil wir nicht in der Lage wären, die verschiedenen Ebenen des Geistes zu durchdringen und zu ergründen und schließlich unser Ziel zu erreichen.
Unterschiedliche Prozesse auf dem Weg nutzen
Der Weg der Meditation unterscheidet sich von den Wegen des Gebets und der Kontemplation. Beim Gebet tritt der Suchende in einen Dialog mit der göttlichen Kraft und reinigt so den Weg der Seele. Bei der Kontemplation nutzen die Suchenden ihren bewussten Geist, um ein Prinzip oder ein Konzept wie Frieden, Wahrheit oder Glück zu untersuchen und zu betrachten. Dann erlauben sie ihrem Geist, dieses Prinzip zu verinnerlichen, indem sie betrachten, wie sie es im täglichen Leben anwenden können. Ernsthafte Suchende können alle drei Techniken anwenden. Diese Wege stehen nicht im Widerspruch – es sind lediglich unterschiedliche Prozesse.
Bei der Meditation geht es darum, über den Geist hinauszugehen und unsere essentielle Natur zu erfahren – die als Frieden, Glück und Glücksseligkeit beschrieben wird. Doch wie jeder erfahren hat, der schon einmal versucht hat zu meditieren, ist der Geist selbst das größte Hindernis, das zwischen uns und diesem Bewusstsein steht. Aus diesem Grund ist die Verwendung eines Mantras so wichtig. Ohne seine Hilfe können Suchende aufrichtig und gewissenhaft meditieren, ohne den vollen Nutzen zu erfahren oder trotz ihrer Bemühungen große Fortschritte zu machen. Der Geist ist undiszipliniert und widerspenstig und widersetzt sich allen Versuchen, ihn zu zügeln oder ihn auf einen bestimmten Weg zu führen. So sitzen viele in der Meditation und erleben nur Fantasien, Tagträume oder Halluzinationen. Sie erreichen nie die Stille, welche die echte Erfahrung tiefer Meditation ausmacht.
Von der Stille zur Stille
Ein Mantra ist ein Wort, eine Phrase, ein Klang oder eine Reihe von Worten, die Suchende nach genauen Richtlinien verwenden, wenn sie meditieren. Diese Wissenschaft ist sowohl subtil als auch tiefgründig. Sie führt zu einem Zustand, in dem der Meditierende dem Mantra erlaubt, sich innerlich auf die tiefste und subtilste Weise zu wiederholen. Das Ziel ist es, dem Geist einen inneren Fokus oder Konzentrationspunkt zu geben, damit er nicht sein normales, verstreutes Muster geistiger Aktivität fortsetzt. Wenn diese Technik richtig befolgt wird, kann sich der Geist selbst beruhigen und still werden.
In der alten Meditationstradition heißt es, dass Mantra und Meditation wie zwei Seiten einer Medaille sind. Sicherlich gibt es einige Techniken, die kein Mantra verwenden, um den meditativen Zustand zu vertiefen, doch diese beschränken sich in der Regel auf die Atembewusstheit – und solche Techniken können uns Suchenden nur bis zu einem gewissen Punkt bringen. Sie können uns nicht helfen, den höchsten Zustand zu erreichen. Wenn Suchende jedoch über ein bestimmtes Mantra meditieren und sich bewusst darum bemühen, den Geist auf dieses Mantra zu konzentrieren, führt dies den Geist schließlich zur Stille. Alle Klänge gehen von der Stille aus. Das Mantra führt die Suchenden in diese Stille zurück, die Samadhi, Nirvana oder der Zustand der Ruhe genannt wird. Unter allen Meditationsmethoden ist das Mantra also die tiefgründigste und fortschrittlichste.
Die Kraft und Bedeutung eines Mantras ergibt sich nicht aus seiner wörtlichen Bedeutung, sondern aus der Kraft seiner subtilen Schwingungen.
Suchende fragen sich oft, ob jedes beliebige Wort oder jeder beliebige Klang ein Mantra sein kann und ob sie sich selbst ein Mantra aus einem Buch aussuchen oder ein Wort oder einen Satz verwenden können, zu dem sie sich hingezogen fühlen, wie zum Beispiel die Worte „Frieden“ oder „Liebe“. Tatsächlich wurden die authentischen Mantras von keinem Menschen erfunden oder entwickelt. Es sind Klänge, die von den großen Weisen in Zuständen tiefer Meditation empfangen und erfahren wurden. Sie sind nicht Teil einer bestimmten Sprache oder Religion. Es sind tiefe, präzise Klänge, die ewig und universell sind. Wenn die Weisen aus ihren tiefen Meditationszuständen zurückkehrten, übermittelten sie die empfangenen Klänge an die Suchenden, die bereit waren, diese zu hören. Und es sind diese offenbarten Mantras, die den nach höherem Strebenden halfen, die höchsten Ebenen tiefer Meditation zu erreichen.
Die Kraft und Bedeutung eines Mantras ergibt sich nicht aus seiner wörtlichen Bedeutung, sondern aus der Kraft seiner subtilen Schwingungen. Es sind tatsächlich die subtilen Schwingungen der Mantras, welche die Macht haben, tiefere Erfahrungen des Bewusstseins zu fördern und zu ermöglichen. Doch dieser Prozess kann nicht erklärt oder wirklich verstanden werden, solange man ihn nicht auf einer bestimmten Ebene persönlich erlebt hat. Für moderne Suchende ist dies wahrscheinlich der Aspekt der Wissenschaft von Mantra und Meditation, der am schwierigsten zu verstehen ist.
Leider sind wir in der modernen Welt darauf angewiesen, Dinge nur durch die analytischen Aspekte des bewussten Verstandes zu wissen und zu erfahren. Aber der bewusste Verstand lernt nur durch die äußeren Sinne und denkt und „weiß“ daher auf eine sehr begrenzte und oberflächliche Weise. Deshalb gehen moderne Suchende oft davon aus, dass die Kraft ihres Mantras auf seine wörtliche Bedeutung zurückzuführen ist, und sie richten ihre Sensibilität für das Mantra manchmal nur auf diese Ebene aus.
Es gibt vier Ebenen, oder Koshas, eines Mantras.
Tatsächlich gibt es jedoch vier Ebenen oder Koshas eines Mantras. Seine wörtliche Bedeutung ist nur die primäre und äußerste Ebene, auf der es wahrgenommen werden kann. Das Gefühl des Mantras ist die nächste, subtilere Ebene. Darauf folgt die tiefe Präsenz oder das innere Bewusstsein. Schließlich wird das Mantra als klangloser Klang erlebt, und zwar auf der tiefsten Ebene. Das Ziel von Meditierenden ist es, das Mantra bis zu dieser Ebene zu vertiefen. Und deshalb wird ein zur Meditation gegebenes Mantra nicht laut ausgesprochen, rezitiert oder gesungen.
Klangloser Klang
Kein Mensch „gibt“ einem anderen ein Mantra, aber ein Mantra kann im Namen einer größeren spirituellen Tradition von einem erfahrenen und kompetenten Lehrer an einen aufrichtigen Suchenden weitergegeben werden, der bereit ist, es zu empfangen. Dieser Prozess ist niemals Teil eines Geschäfts oder einer wirtschaftlichen Transaktion zwischen dem Suchendem und Gebenden. Wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin authentisch sind, gibt es keinen Beigeschmack von persönlichem Gewinn, Ego oder Selbstsucht. Das Empfangen eines Mantras ist nur ein Teil einer besonderen und einzigartigen Beziehung zwischen Lehrenden und Suchenden. Sie besteht ausschließlich auf einer spirituellen Ebene. Anders als die anderen Beziehungen, die wir in unserem Leben erleben, hat sie keinen weltlichen, persönlichen Zweck.
Wer Texte und Schriften studiert, kann sicherlich Mantras in Büchern finden, aber nur ein authentisches und angemessenes Mantra, das einem vorbereiteten Suchenden von einem qualifizierten Lehrer oder einer qualifizierten Lehrerin gegeben wird, kann dem Suchenden helfen, das Ziel zu erreichen, das er oder sie sucht. In vielerlei Hinsicht ist die Rolle des Lehrers, der ein Mantra weitergibt, mit der eines Arztes vergleichbar, der die Diagnose eines Patienten und die passende Medikation für diesen Zustand kennt. Doch auch wenn ein Mantra authentisch ist, kann es, wenn es einem Schüler gegeben wird, für den es nicht geeignet ist, keinen Nutzen bringen oder sogar Probleme für den Suchenden verursachen. Deshalb sollten diejenigen, die ernsthaft und aufrichtig meditieren wollen, nicht mit Praktiken aus Büchern experimentieren. Sie sollten sich darauf vorbereiten, eine solche Lehre zu erhalten, indem sie ihren Körper, ihre Sinne und ihren Geist durch vorbereitende Übungen reinigen.
Irgendwann, so heißt es, werden aufrichtige Suchenden einen qualifizierten Lehrer finden, der das, was gelehrt wird, selbst praktiziert und erfahren hat. Die oberflächlichen Lehrer, die in der modernen Welt so häufig anzutreffen sind, erweisen der Meditationstradition einen Bärendienst, indem sie viele Suchenden desillusionieren und sie dazu bringen, sich zu fragen, ob es überhaupt eine authentische, lebendige Tradition gibt. Qualifizierte Lehrer gibt es immer noch – wenn die Suchenden den starken Wunsch haben, Fortschritte zu machen, werden sie schließlich finden, was sie suchen.
Um von Nutzen zu sein, muss ein Mantra dem Entwicklungsgrad, der Persönlichkeit, den Sehnsüchten und der Einstellung des Suchenden entsprechen und bei der Weitergabe präzise und gezielt eingesetzt werden. Mantras werden nicht auf der grobstofflichen Ebene mit dem Mund, der Zunge und dem Kehlkopf gesprochen oder gemurmelt. Stattdessen werden sie zunächst im Geiste gehört und dann immer feiner und subtiler. Das Ziel ist es, einen Zustand konstanter, müheloser Bewusstheit zu erreichen, der Ajapa Japa genannt wird.
Zwei Arten von Klängen
Es gibt zwei Arten von Klängen: jene, die von der äußeren Welt erzeugt und von den Ohren gehört werden, und jene inneren Klänge, die Anahata Nada, unangeschlagene Klänge, genannt werden. Sie schwingen nicht auf dieselbe Weise wie die Klänge in der Außenwelt und haben eine leitende Qualität, die den Meditierenden zum Zentrum der Stille im Inneren führt.
Mantras, die in der Meditation verwendet werden, behindern oder stören den Fluss des Atems nicht – vielmehr helfen sie, den Atem auszugleichen und zu verfeinern. Dies führt zu einem einzigartigen und besonderen Zustand, in dem Sushumna Nadi, der subtile Kanal, aktiv ist und der Atem frei und gleichmäßig durch beide Nasenlöcher gleichzeitig fließt. Dies unterscheidet sich vom normalen Funktionieren von Körper, Atem und Geist, wenn entweder die linke Nadi (Ida) oder die rechte Nadi (Pingala) aktiv ist und der Atem in dem einen oder dem anderen Nasenloch dominiert. Wenn es den Suchenden gelingt, Sushumna zu aktivieren, und der Atem gleichmäßig durch beide Nasenlöcher fließt, funktionieren Atem und Geist in völliger Harmonie. Dieser besondere Zustand ist ideal für die Meditation geeignet, denn wenn er erreicht ist, richtet sich der Geist vollständig nach innen.
Wenn sich der Geist nach innen wendet, trennt er sich von den äußeren Sinnen und der Meditierende erlebt einen Strom von Gedanken, Eindrücken und Emotionen, die aus dem Unterbewusstsein kommen. Dort lagern alle Eindrücke unseres Lebens, und sie haben tiefe Furchen im Unterbewusstsein hinterlassen, die störend sein können. Das Mantra soll uns helfen, diese Furchen zu überwinden und neue, positive Kanäle zu schaffen. Der Geist beginnt dann, spontan in den neuen Furchen zu fließen, die das Mantra geschaffen hat, und wird konzentriert, auf einen Punkt ausgerichtet und nach innen gerichtet. Während sich der Geist auf das Mantra konzentriert, werden die anderen Eindrücke, Erinnerungen, Gedanken und Emotionen des bewussten und unbewussten Geistes still.
Geduld ist bei der Meditationspraxis unerlässlich.
Sobald Suchende ein Mantra erhalten haben, sollten sie eine Zeit lang damit meditieren und es auf immer subtilere Erfahrungsebenen bringen. Manchmal werden moderne Suchende jedoch ungeduldig, nachdem sie das Mantra nur ein paar Wochen oder Monate lang geübt haben, und haben das Gefühl, dass sie keine Fortschritte machen, weil sie keine dramatischen oder unmittelbaren äußeren Veränderungen als Ergebnis dieser Praxis sehen können. Manche kommen zu dem Schluss, dass ihr Mantra nicht das „richtige“ Mantra ist, und suchen nach anderen Praktiken. Andere hören einfach auf zu praktizieren, weil sie entmutigt sind, weil sie keine Fortschritte sehen. Das ist wie die Ungeduld von kleinen Kindern, die im September Tulpenzwiebeln pflanzen und sie zwei Tage später wieder ausgraben wollen, weil sie noch keine Anzeichen einer Blüte gesehen haben.
Geduld ist das A und O bei der Meditationspraxis. Man muss mit dem Mantra eine Zeit lang mit voller Hingabe und tiefem Gefühl arbeiten. Irgendwann wird es wie ein treuer Freund, der uns nie im Stich lässt und uns immer zur Seite steht. Deshalb sagen Meister ihren Schülerinnen und Schülern manchmal, dass die Abhängigkeit von einer äußeren Person oder einem Objekt sie sicher irgendwann enttäuschen wird, aber dass es immer hilfreich sein wird, Trost und Hilfe beim Mantra zu suchen – besonders in den Zeiten, in denen Einsamkeit und Zweifel herrschen.
Wenn du also mit der Praxis der Meditation über ein Mantra beginnst, arbeitest du systematisch daran, die entfernteren Ebenen deiner eigenen inneren Erfahrung nach und nach zu vertiefen. Dieser Prozess hat zwei Aspekte: Er verfeinert und reinigt die bestehenden Eindrücke des Geistes und gleichzeitig kultiviert und vertieft er die Erfahrung des Mantras. Da die meisten Menschen noch kein Bewusstsein für die tieferen Ebenen ihrer selbst entwickelt haben, ist es für sie nicht leicht, die Veränderungen, die während dieses Prozesses stattfinden, zu beobachten und zu schätzen. Doch wenn du dich weiter in der Meditation über das Mantra übst, wird sich jener innere Prozess, der stattfindet, schließlich offenbaren. Dann wirst du beginnen, dich so zu erkennen, wie du wirklich bist.
Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.