Schmerz verstehen und transzendieren (Yoga als Heilkunst – Teil 3)
Lesen oder Zuhören? Du hast die Wahl! - Lass Dir den Beitrag von unserer KI-Stimme Anisha vorlesen!
|
Von Rolf Sovik
Wie wir in vorigen Beiträgen der Serie „Yoga als Heilkunst“ gesehen haben, hat das Kämpfen mit Schmerzen Nebenwirkungen. Es erhöht den Stresslevel, vergrößert die schmerzhaften Symptome und führt zu Angst und Entmutigung. Es liegt in der Natur des Schmerzes, dass er eskaliert, wenn wir gegen ihn kämpfen. Wie kann unsere Beziehung zu Schmerz und Leiden weniger zu einem Kampf werden?
Der erste Schritt ist es, zu verstehen, was Schmerz wirklich ist, und der zweite Schritt ist es, unsere Einstellung zum Schmerz zu ändern. Es ist nicht so, dass der Schmerz selbst notwendigerweise aufhören wird – vielmehr wird sich unsere Erfahrung des Schmerzes ändern. Der Schmerz lässt nach, sobald wir in der Lage sind, unseren eigenen Griff zu lockern und aufhören, uns an ihn zu klammern. Das ist befreiend: Es erlaubt uns, mehr von unserer Zeit und Anstrengung in unser spirituelles Streben zu investieren, anstatt von körperlichem, geistigem und emotionalem Leiden belastet zu werden. Dann können wir beginnen, die Wege des Yoga und der Heilung neu zu beschreiten.
Die Natur des Schmerzes
Was ist Schmerz? Jeder von uns erfährt Schmerz – es ist ein Teil des Menschseins, aber nur wenige von uns halten inne, um darüber nachzudenken, was Schmerz ist und warum er uns so im Griff hat. Der erste Schritt zur Überwindung des Schmerzes ist zu verstehen, was er wirklich ist. Dies führt uns über den Bereich der Schmerzerfahrung hinaus und hilft uns, mit dem Schmerz zu arbeiten und ihn letztendlich zu transzendieren.
Die 3 Arten von Duhkha (Schmerz)Adhyatmika: Schmerz, der aus unserem Inneren heraus entsteht. Adhibhautika: Schmerz, der aus unserer Beziehung zu anderen entsteht. Adhidaivika: Schmerz, der durch die Kräfte der Natur entsteht. |
Die alte Sankhya-Schule der indischen Philosophie beschreibt Schmerz (Duhkha) als dreifach: Die erste Art von Schmerz wird Adhyatmika genannt – Schmerz, der aus unserem Inneren entsteht. In Sanskrit bedeutet Adhyatmika „entstehen“ (Adhi) aus dem „Selbst“ (Atman). Adhyatmika-Schmerzen können körperlich sein; sie können auch emotionale und mentale Konflikte sein, wie Sorgen, Furcht und Angst. Sie resultieren aus unbewussten Gewohnheiten und Ungleichgewichten, die wir alle haben. Da sie mit unserem eigenen Geist zu tun haben, können sie am schwierigsten klar zu identifizieren und zu bearbeiten sein.
Die zweite Art von Schmerz ist Adhibhautika – der Schmerz, der aus unserer Beziehung zu anderen entsteht (Bhautika ist verwandt mit Bhuta, was „Lebewesen“ bedeutet). Diese anderen können uns in unseren eigenen Familien nahe stehen oder sie können ganz weit von uns entfernt sein. Eine Finanzkrise auf einem anderen Kontinent könnte zum Beispiel Auswirkungen auf unser Bankkonto haben, was uns Kummer bereitet. Die meiste Zeit jedoch entstehen Adhibhautika-Schmerzen durch Begegnungen mit Menschen, die wir intim kennen – Familie, Freunde und Mitarbeiter, deren persönliche Interessen mit unseren eigenen in Konflikt stehen.
Schließlich haben wir Adhidaivika (Daivika ist verwandt mit dem Sanskritwort Deva, strahlendes Wesen). In diesem Fall bedeutet es „heller Kosmos“. Also ist jeder Schmerz, der durch eine Naturgewalt entsteht – Erdbeben, Wirbelstürme, Stürme aller Art, Dinge, die größer sind als wir und außerhalb unserer Kontrolle liegen – Adhidaivika Duhkha. Dieses Unbehagen kann geringfügig sein (Enttäuschung, weil unser Baseballspiel verregnet wurde) oder größer (Sachschäden oder Verletzungen, oder schlimmer, aufgrund eines Tornados).
Du kannst mehr über die Natur des Schmerzes erahnen, wenn du dir zwei Sanskrit-Begriffe ansiehst: Heya und Duhkha (Yoga Sutra 2.16). Wie das Yoga Sutra weiter erklärt, bedeutet Heya „das, was vermieden, aufgegeben, zurückgewiesen werden soll“ – eine treffende Beschreibung von Schmerz. Das andere Wort, Duhkha, kann in zwei Teile geteilt werden: Duh und Kha. Kha bedeutet „Raum“. Es impliziert jede Art von leerem Raum, von klein bis riesig. Kha beschreibt auch den Raum in der Nabe eines Rades, um die zentrale Achse. Duh bedeutet „quälen oder bedrängen“. Wenn die Wörter Duh und Kha verbunden sind, meinen sie den Schmerz oder die Bedrängnis eines Raumes – physisch, psychologisch oder spirituell. So kann sich Duhkha auf den Schmerz eines Ohrenschmerzes beziehen, auf das Verlieren eines Rennens, auf eine Scheidung oder auf das Kämpfen in einem Krieg, von dem wir wissen, dass er unfair ist. Wir müssen uns daran erinnern, dass Schmerz im Wesentlichen ein psychologisches Ereignis ist, das sich in einem inneren Bereich von Vorlieben und Abneigungen entfaltet.
Unsere Einstellung zum Schmerz ändern: Drei Schritte
Wie können wir also anders mit Schmerzen umgehen? Eine neue Einstellung zum Schmerz zu entwickeln, erfordert Selbsteinschätzung und Reflexion, sowie Geduld. Hier sind ein paar Möglichkeiten, wie wir unsere Einstellung zum Schmerz ändern können.
Akzeptiere den Schmerz. Erkenne, dass er auf deiner Suche nach Erleuchtung hilfreich sein kann.
Shantidevas durchdachter Ratschlag bietet eine Alternative zu dem, was sich sonst als Nahkampf mit dem Schmerz entpuppen könnte. Er sagt, dass wir, sobald wir von dem Vorurteil, dass „Schmerz schlecht ist“, zurücktreten können, die Möglichkeit haben, uns neu zu formen. Wir können die Art und Weise, wie wir mit uns selbst über unseren Schmerz sprechen, verfeinern und allmählich klarer sehen, was wir tun müssen, um zu heilen. Wir können lernen, aufmerksamer auf unsere eigene innere Stimme zu hören und uns einem Ort der Klarheit im Inneren zu nähern. Ob wir diesen Ort nun unseren spirituellen Kern, unser Herzzentrum, unser Gewissen oder unser inneres Licht nennen – es ist der Ort, an dem wir die Schnittstelle zwischen Erleuchtung und Heilung finden.
Lockere deinen Griff. Klammere nicht.
Wenn wir unser Leben so ausbalancieren können, dass wir uns nicht zu fest an den Schmerz oder unseren Widerstand gegen den Schmerz klammern, dann können wir unser Leben transformieren. Was den Geist daran hindert, nach vorne zu greifen, ist, dass wir uns an die Dinge klammern, die wir mögen, wir klammern uns an den Kampf gegen die Dinge, die wir nicht mögen, und wir klammern uns an Ängste, die den Schmerz aufrechterhalten. Es fällt uns schwer, loszulassen. Das ist die Natur des Festhaltens. Wenn wir lernen, die Art und Weise, wie wir an diesen Dingen festhalten, zu mildern, befreit uns das.
Ruhe den Geist aus. Wende dich nach innen. Finde Ausgeglichenheit.
Zurück zu Shantidevas Ratschlag: Wie kannst du mit deinem Innenleben arbeiten und den Gedanken der Abneigung gegen das Leiden umkehren? Zu Beginn ist es hilfreich, dich an die erfolgreichen Wege zu erinnern, auf denen du vergangene Schwierigkeiten im Leben gelöst hast. Nutze diese vergangenen Erfahrungen, um das Vertrauen in dich selbst zu vergrößern. Erinnere dich außerdem an alle hilfreichen Ratschläge, die dir in der Vergangenheit gegeben wurden. Aber der eigentliche Trick liegt darin, den Geist in Meditation, Entspannung und Atembewusstsein zur Ruhe kommen zu lassen, kombiniert mit einer ausgeglicheneren Art zu handeln und zu leben. So führt uns die Kraft des Yoga am Leiden vorbei zur Erleuchtung. Der Ausgang der meisten Dinge im Leben ist unvorhersehbar. Aber wenn wir erst einmal auf dem Pfad sind, entfaltet sich das Leben nicht nur so, wie wir es erwartet haben, sondern auch auf völlig unerwartete – und schöne – Weise.
Im nächsten Teil wenden wir uns der Selbstreflexion als wichtiges Werkzeug für Selbstheilung zu.
Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute, USA.