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wenn ich am Nachmittag im Badezimmer aus dem Fenster schaue, dann strahlt die Sonne durch die dichte Krone einer wunderbaren Rotbuche, die auf dem Nachbargrundstück steht. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich dieser Anblick mit jedem Tag im Jahreslauf verändert. Vor wenigen Tagen waren die Baumkrone noch viel weniger dicht und die Blätter beinahe grün-orange, während sie jetzt schon richtig ins Dunkel-Rot, ja beinahe Schwarz-Rot geht.

Ich liebe diesen alten Baum, auch wenn er uns viel Arbeit beschert und ihn manche aus der Nachbarschaft wohl am Liebsten weg haben möchten. Natürlich hält er uns in Sachen „schwäbischer Kehrwoche“ auf Trapp. Auch wenn er auf dem Nachbargrundstück steht, lässt er im Herbst und Winter wohl knapp zwei Drittel seiner Blätter auf unser Grundstück fallen. Und da alle Nachbarn über unseren Weg zu Ihren Häusern gehen müssen wir wegen der „Pflicht zur Verkehrssicherung“ immer schön die Blätter wegkehren. Auch im Frühjahr – man sollte es kaum glauben – beschenkt uns dieser Baum mit reichlich Segen von oben. Jedes dieser wunderbaren roten Blätter ist nämlich erst mal schützend eingehüllt, wenn es herauswächst – und sobald es sich entfaltet, fällt diese Hülle nach unten.

Und so geht es gerade weiter mit der Arbeit, die dieser Baum im Jahresverlauf macht. Letzten Sommer war er so dick von weißen Buchenblattläusen bedeckt, dass sich deren zuckerige Ausscheidungen als feines Kristallzuckerpulver über den Weg verteilte. Wäre ja nicht weiter schlimm, wenn es nicht doch ab und zu regnen würde und der ganze Weg dann klebt, als hätte man die Zuckerglasur von der Torte direkt auf den Weg aufgespachtelt. Weiterlesen

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Von Michael Nickel

Langsam aber sicher macht sich das Herbstgefühl wieder breit. Die Tage werden schon deutlich kürzer, die Nächte kälter und die Luft ist klar und beginnt den Schein der Herbstsonne in ihrer charakteristischen Weise über uns auszuschütten. Das Herbstgefühl ruft in vielen von uns eine Art Wehmut hervor, das war wohl schon immer so und wurde von unzähligen Dichtern zum Ausdruck gebracht. Unter diesen Herbstgedichten ist mir seit langer Zeit eines von Rainer Maria Rilke ans Herz gewachsen:

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke
(Das Buch der Bilder)

So melancholisch das Gedicht zunächst klingen mag, so sehr betont Rilke in ihm doch auch die Fülle des Lebens, die im Herbst steckt. Nicht umsonst feiern viele Kulturen rund um die Welt ein Erntedankfest – die einen früher, die andern später, doch selbst dort wo die Jahreszeiten nicht so ausgeprägt sind wie in unseren Breiten und es vielleicht sogar mehrere Ernten im Jahr gibt, ist diese Idee und dieser Drang sich zu einem bestimmten Fest im Jahreslauf für die Fülle der Geschenke der Natur zu bedanken, fest verankert.

Auch wenn wir – wie Rilke in seiner zweiten Strophe – dieses drängende und allzu menschliche Verlangen haben, dass diese Fülle noch immenser sein möge, damit wir sie noch einmal voll auskosten können, es bleibt dass Bewusstsein, dass der lange, kalte Winter kommt.

Sich den Kräften des Universums vertrauensvoll hingeben

Doch noch ist es nicht soweit und ich möchte mich auch nicht in einer Gedichtsinterpretation zu einem meiner Lieblingsdichter verlieren, auch wenn es eine herrliche Doppeldeutigkeit in sich trägt, die den Jahreslauf allegorisch mit dem Lebenslauf von uns Menschen vergleicht. Darin klingt bei Rilke immer wieder eine Art Weltsicht, die an die östliche Spiritualität erinnern mag und sich den großen Kräften des Universums vertrauensvoll hingibt – wie dem Wind im Gedicht. Weiterlesen