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Von Swami Rama

Buchauszug aus Pandit Rajmani Tigunait:
Die Weisheit der Meister des Himalayas – Die Philosophie des Yoga in Geschichten für ein erfülltes und glückliches Leben,
als direktes Zitat von Swami Rama.

Der Sinn des Lebens ist es, sich selbst auf jeder Ebene zu verstehen. Die Hindernisse, die sich aus der körperlichen Ebene deines Seins ergeben können, vermögen wir zu verhindern, indem wir ganzheitlich leben: eine ausgewogene Ernährung zu uns nehmen, yogische Übungen zu praktizieren, die vier primitiven Triebe – Essen, Schlafen, Sex und Selbsterhaltung – zu regulieren und pünktlich ins Bett zu gehen und aufzustehen.

Lebensglück ist eine Schöpfung deines Geistes

Doch nachdem man die Dynamik des körperlichen Wohlbefindens erkannt und etabliert hat, erkennt man, dass wahres Glück nicht vom Körper kommt: Glück ist die Schöpfung des Geistes. Ein ungesunder Körper kann Hindernisse für Frieden und Glück schaffen, aber ein gesunder Körper trägt sehr wenig zum Glück bei. Es ist der Geist, der gesund gemacht werden muss, der diszipliniert und unter Kontrolle gebracht werden muss. Der Atem ist der Schlüssel, um dies zu erreichen. Weiterlesen

Lesedauer 10 Minuten

von Michael Nickel

Eigentlich reise ich jedes Jahr im Januar/Februar für einige Wochen nach Indien für mein persönliches Meditations-Retreat. Ein Rückzug vom Alltag und eine Neuausrichtung für das neue Jahr. Eigentlich. Dieses Jahr eben nicht. Dafür bin ich im „Retreat zuhause“. Und weil ich da mehr Zeit für meine Praxis und alles, was damit zusammenhängt brauche, gibt es diese Woche eine „Gedankenfutter-Konserve“, nämlich einen Text, den ich vor Jahren auf dem Rückweg von Indien als Reflexion meines Praxis-Retreats geschrieben habe. Ein Einblick in den Alltag eines Sadhakas und in die (Yoga-)Philosophie, die dahinter steckt, mich einmal im Jahr wirklich zurückzuziehen. Es geht dabei um die vier Purusharthas: Dharma, Artha, Kama und Moksha.

Ein Sprung ins Jahr 2017 …

Ich sitze im ICE von Frankfurt Flughafen nach Stuttgart auf der Rückreise von einem vierwöchigen Aufenthalt in Indien. Mein persönliches Meditations-Retreat zum Jahresbeginn. Der dritte Aufenthalt dieser Art in Folge, jeweils im Januar/Februar. Ich komme also aus dem Wellness-Urlaub – das ist zumindest, was viele meiner Bekannten, Freunde und Familienmitglieder denken.

Doch wenn ich ihnen von meinen Tagen erzähle, relativiert sich diese Ansicht ganz schnell, denn obwohl das Ziel dieses Aufenthalts für mich tatsächlich ein „gut sein“ = Wellness ist, oder genauer gesagt ein „besser sein“, erinnert der Tagesablauf eher an den eines Schichtarbeiters, als an den eines Urlaubers. Und so ist dies tatsächlich auch die Dienstreise eines Yogis und kein Urlaub. Wer sich auf ein persönliches Meditations-Retreat dieser Art einlässt, geht tief in den Prozess von Sadhana, wie es die alten Sanskrit-Schriften nennen, die Art der meditativen Lebens- und Übungspraxis, die jede Minute des Seins durchdringt. Dieser Prozess ist seit tausenden von Jahren im Prinzip derselbe, obwohl er für jeden Menschen in Weg und Detail unterschiedlich ist. Man wird zum Sadhaka, zum Aspiranten, der sein ganzes Dasein dem Zweck unterordnet, sein Lebensziel klarer zu sehen und entsprechend zu üben oder zu handeln.

Retreat als Rückzug im wörtlichen Sinn

Zwar sollte das auch im Alltag möglich sein, doch in der modernen und schnelllebigen Welt kommt man bei dieser Art der Lebensführung schnell in Konflikt mit familiären und beruflichen Verpflichtungen. Da uns die Bhagavad Gita klar sagt, dass wir diese Verpflichtungen als Teil unseres Lebensweges zu erfüllen haben, blieb für den „Haushälter“, also den Menschen, der sein Leben aktiv in Familie und Beruf lebt, schon immer nur der Weg der „zeitlich begrenzten Entsagung“, also der temporäre Rückzuges aus dem Alltag. Neudeutsch nennen wir das Retreat. Nun kann man heutzutage auch einen Strandurlaub mit all-täglichem Sundowner-Cocktail als „Retreat“ buchen. Doch erfüllt das seinen Zweck? In gewisser, eingeschränkter Weise schon. Doch seien wir ehrlich, wer möchte in einem solchen „Retreat“ schon mehr Klarheit über seinen Lebensweg finden – und wer kehrt aus einem solchen Strandurlaub schon mit einem tiefen Gefühl der Klarheit, Zufriedenheit und des Tatendrangs für die kommenden Monate zurück? Doch das ist genau, was ich im Moment fühle und ich bin dafür sehr dankbar. Dankbar vor allem meinen Lehrern, die mir diesen Weg gewiesen haben. Doch woher kommt dieses tiefe Gefühl des in uns Ruhens nach einer solchen intensiven Sadhana-Periode? Es ist das Ergebnis harter Arbeit. Arbeit im Inneren, die einen an die eigenen Grenzen bringen kann und darüber hinaus, wenn man es zu lässt.

Das ist, gelinde gesagt, nicht jedermanns Sache. Der Prozess beginnt zunächst schon damit, dass man sich einen Tagesablauf plant und sich selbst gegenüber verpflichtet, diesen einzuhalten. Disziplin pur – das klingt schon mal nicht nach Wellness-Urlaub. In meinem Fall auf dem Campus des Himalayan Instituts zunächst in Allahabad und dann in Khajuraho hieß das für den größten Teil der vier Wochen, dass um 3 Uhr mein Wecker klingelte. Hinzu kam, dass ich jeden zweiten Tag ein Flüssig-Fasten einlegte, um das für meinen Hyperinsulinismus nicht optimale, aber extrem leckere sehr Kohlenhydrat-Fett-dominierte Essen zu kompensieren.

Die Tage sahen also wie folgt aus:

3:00 – 3:30 Aufstehen, Bad, heiße Getränke zum Durchspülen und aufwachen
3:30 – 4:10 Übungen und Tiefenentspannung (Agni Sara, Pranayama, 61-Punkte-Entspannung)
4:15 – 6:30 Meditation im Schrein (mit kurzer Bewegungspause nach ca. 60 Minuten)
6:30 – 6:45 Chai mit Blick in den Garten und Kontemplation oder Bhagavad Gita lesen
6:45 – 7:00 Bett machen, Zimmer richten, Umziehen
7:00 – 8:30 Asanas (intensive Agni-Praxis nach Rod Stryker) und Entspannung
8:30 – 9:00 Frühstück an Essenstagen
8:30/9:10 – 10:00 Meditation im Schrein
10:00 – 12:00 Selbststudium (Übersetzung von Swami Rama Life Here and Hereafter ins Deutsche)
12:15 – 12:30 Rezitation eines Sanskrit-Textes
12:30 – 13:00 Mittagessen an Essenstagen
13:15 – 16:00 Selbststudium (hauptsächlich Übersetzung oder Kontemplation)
16:00 – 16:45 Chai mit Gleichgesinnten (Sangha)
17:00 – 18:15 Meditation im Schrein
18:30 – 19:00 Abendessen an Essenstagen
19:00 – 20:30 Selbststudium/Kontemplation
20:30 – 21:00 Ab ins Bett

Bei aller Disziplin in einem solchen Programm muss man natürlich auch immer mal wieder das Programm durch Spaziergänge, Zeit für mehr Reflexion oder Gespräche mit den Mitstreitern abwandeln. Doch das gehört dazu.

Die Purusharthas und unsere persönliche Bestimmung: Dharma

Dieser straffe Tagesablauf erklärt nun noch nicht, was dabei im Innern geschieht. Bei aller Individualität des persönlichen Sadhana geht es doch immer um das selbe: sein Leben mit Hilfe der vier Purusharthas, der vier Kategorien von grundlegenden Bedürfnissen, auszurichten, so dass man in sein Gleichgewicht oder seine Bestimmung kommt. Und so wie jeder einzelne Tag in unserem Leben sich mit diesen Kategorien auseinandersetzt, so geschieht dies auch während einer Sadhana-Periode – lediglich etwas bewusster und intensiver. Unweigerlich ist man mit dem Thema von Dharma, dem Sinn oder der Bestimmung seines Lebens, konfrontiert. Ein Thema, das sich durch ein solches Retreat wie ein roter Faden zieht. Die intensive Meditationspraxis erlaubt es Chitta, dem Unterbewusstsein, viele Dinge hochzuspülen, die mit diesem Thema zusammenhängen. Und so wird so manche auf die Meditation folgende Praxis der Kontemplation, in den Schriften Vichara genannt, angestoßen. Die Erfahrungen sind seit tausenden von Jahren die selben, wenn man sich auf diesen Weg begibt, man muss sich den Themen jedoch öffnen – dann findet man Frieden, nachdem man sich mit ihnen auseinandergesetzt hat. Das ist es, was die Yoga-Schriften als Befreiung von Samskaras bezeichnen, den tief sitzenden Eindrücken, die unser Unterbewusstsein zu jeder Millisekunde unentwegt sammelt.

Die richtigen Mittel im Leben haben: Artha

Die zweite Kategorie von Bedürfnissen, mit denen man sich auseinandersetzt ist Artha, das Bedürfnis nach den materiellen und ideellen Grundlagen unseres Lebens. Das fängt ganz konkret bei den Rahmenbedingungen eines solchen Retreats an – an denen man zunächst arbeiten muss, bis es passt. Dann geht es weiter und auch hier spült im Prozess der intensiven Meditationszyklen und der Zeit dazwischen das Unterbewusstsein alles hoch, was mit Existenzängsten, materiellen Begierden und Aspekten wie partnerschaftliche und freundschaftliche Unterstützung zu tun hat. In diesem Prozess relativieren sich oft viele Aspekte, wenn die Ruhe für Klarheit und Weitsicht sorgt und plötzlich klar wird, welche Aspekte von Artha wirklich wichtig sind für ein glückliches Leben. Denn der Sinn des Lebens besteht entsprechend der Lehren der Yoga-Traditionen darin, ein angstfreies und glückliches Leben zu führen. Dies ist sozusagen das Geburtsrecht eines jeden Menschen. Unweigerlich benötigt man dafür etwas von Artha, egal ob man die eigene Mala für die Japa-Meditation darin sehen möchte, oder das Geld, um sein Leben in einer westlichen Konsumgesellschaft in den selbstgewählten Maßen zu finanzieren.

Kama – Lebensfreude auf allen Ebenen – gehört ebenfalls dazu!

Die dritte und in Yoga-Kreisen oft missverstandene Kategorie von tiefen Sehnsüchten unseres Selbst ist Kama – Sinnes-Freude. Weil das Wort jeder aus dem Kontext des Kama Sutras kennt, denken die meisten sofort an Sexualität. Doch das ist nur ein Teil dieses Aspektes und dazu noch ein kleiner. Kama drückt sich jeden Tag in jeder noch so kleinen Freude aus. Und selbst wenn man der Welt entsagt, so ist das nach Innen gehen in Ananda, die tiefste innere Wonne, ein Aspekt von Kama! Das interessante an einem Meditations-Retreat ist, dass man unter Umständen immer mehr in diesen Aspekt eintaucht. So ging es mir in diesem Jahr. Am Ende war fast jede Sekunde erfüllt von der Freude über den unendlichen Reichtum an inspirierenden Eindrücken, an Schönheit der Natur und die darunterliegende Kreativität. Das ist Kama, wie sie in der Schrift Saundaryalahari/Anandalahari – Die Welle von Schönheit/Die Welle der Wonne, zum Ausdruck gebracht wird. Diese Schrift ist über tausend Jahre alt und geht auf Shankara zurück. Sie ist eine der wichtigen Textquellen der Sri Vidya-Tradition, in der ich durch meine Lehrer eingeführt wurde. In dieser tantrischen Tradition, die die zugegebenermaßen komplexe Samkhya-Philosophie lebenspraktisch erfahrbar macht, wird das gesamte materielle Universum (Prakriti) als mütterlich-führsorglicher Ausdruck des Seins (Sri) angesehen, das im Herzen höchst geschätzt und in Dankbarkeit verehrt wird. Eine mystische persönliche Erfahrungswelt, die den Sufismus ebenso inspirierte wie sie der christlichen Mystik, beispielsweise bei Meister Eckhart, nahesteht. Wer diesen Aspekt durchdrungen hat und in der Lage ist, ihn in den Alltag zu transportieren, der weiß auch, wie er für sich persönlich mit Unruhestiftern im Alltag wie in der Weltpolitik liebevoll und doch konsequent umgehen muss. Dies ist keine Lebensphilosophie nach dem Motto Friede, Freude, Eierkuchen! Es ist vielmehr ein differenziertes Verständnis des kreativen Ausdrucks des Seins, mag es im Gleichschritt mit den höchsten Prinzipien gehen oder völlig konträr. Prakriti, Sri, Kundalini oder Shakti, wie auch immer man die zu Grunde liegende Kraft nennen möchte, sie steht jedem zur Verfügung, der sich mit ihr zu verbinden weiß, zu welchem Zweck auch immer. Wer es nicht glauben mag, nehme die Ramayana als Beispiel und betrachte die beiden konträren Mächtigen dieser Geschichte: Rama vs. Ravana. Was sie verbindet ist der Zugang zu Shakti, was sie trennt ist der Zweck, ihr Ethos. Die Geschichten wiederholen sich, auch heute noch. Und so werden Dämonen-gleiche Gestalten Drahtzieher der Weltpolitik …

Und was ist mit Transzendenz? – Moksha macht’s möglich

Der letzte der vier Aspekte ist Moksha, unsere Sehnsucht nach Befreiung, nach der tiefstmöglichen Erkenntnis unseres Seins. Wer oder was bin ich? Warum bin ich? Wohin gehe ich? Mit diesen Fragen wird man unweigerlich konfrontiert, wenn man in der Meditation in die inneren Tiefen eintaucht. Sei es in Form der dunklen Seite, die einen herausfordert oder in Form des in sich Ruhens, das manche als Licht erfahren. Man muss dabei jedoch achtsam sein, nicht den Vorspielungen seiner Gunnas und Vayus, den mentalen und energetischen Aspekten unseres Daseins, auf den Leim zu gehen. Swami Rama drückte es ungefähr so aus: Warum suchen die Menschen in der Meditation nach Licht? Das Licht in seinen inneren Farben ist lediglich ein Ausdruck der energetischen und mentalen Zustände, die vorherrschen. In der Meditation sollte man die Dunkelheit von Chittikasha, der inneren Leinwand bewusst erfahren. Erst dann wird das subtile Leuchten unseres Selbst als feinster Punkt wahrnehmbar. Es ist ein Prozess, der nach und nach in dieses Leuchten führt. Für viele Meister war dies ein jahrzehntelanger Prozess. Warum sollte es ausgerechnet für uns schneller gehen? Doch es geht gar nicht darum, heute dort anzukommen. Der Weg ist das Ziel und das konstante Üben oder Bemühen (Abhyasa), Nicht-Anhaftung (Vairagya) und Vertrauen (Shraddha) in uns und die Kräfte des Universums (Sri) werden uns eines Tages dort hinführen. Für mich wurde in diesem Retreat mein persönlicher Weg hinsichtlich Moksha glasklar, doch das ist ein innerer Schatz, der unteilbar in meinem Herzen ruht. Für eine solche Erkenntnis braucht man Lehrer, die einem Türen öffnen, damit man weitergehen kann. Ich bin dankbar für die Tradition und lange folge von Lehrern (Parampara), die alles dazu nötige zu mir gebracht hat, nicht zuletzt durch Rod Stryker, Pandit Rajmani Tigunait und Swami Rama. Im Sinne dieser Tradition trage ich nun das Licht dieses Wissens in bescheidener Weise weiter, so dass einen kleinen Zugang dazu finden möge, wer auch immer dafür offen ist. Ein Zugang, der unweigerlich zu den Lehren und Lehrern führt, die wir für unser Wachstum in diesem Leben brauchen.

Bye bye, liebe Ashram-Blase – bis bald!

Und so komme ich nun zuhause und im Alltag an, außerhalb der „Ashram-Blase“, wie es eine liebe Person in meinem Leben bezeichnet. Doch die innere Ruhe, die tiefe Freude und Zufriedenheit ist völlig unabhängig von einer solchen Blase. Die Blase ist nur temporär nötig, um das Innenleben zu ordnen und die Aspekte unseres Lebens zu relativieren. Dann ist es möglich, im Sinn dieser Ruhe, Freude und Zufriedenheit seine Aufgaben im Leben zu erfüllen. Das betrifft sowohl meinen Beruf als Wissenschaftler und Berater als auch meine Berufung, Yoga, Meditation und Kontemplation im Sinne meiner Lehrer weiterzutragen. Darum gehe ich jedes Jahr für vier Wochen in mein persönliches Retreat in all seinen Herausforderungen. Dies ist für mich nötig, damit ich Euch in all meinen Yoga-Stunden, Einzel-Sitzungen und Workshops etwas authentisches aus dem Schatz der Traditionen der Selbstfindung und Selbstverwirklichung mitgeben kann. Ob Du es bemerkst oder nicht, es steckt in jeder Stunde, selbst wenn sie vordergründig „nur“ auf Muskel- und Atemebene arbeitet …