Wie erkennt und findet man Guru? – Die führende Kraft des Selbst im Innen und im Außen

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Lesedauer 9 Minuten

Von Rolf Sovik

Wir sprechen gerne von Mediengurus, Sportgurus und sogar von Verkaufs- und Marketinggurus, doch die Bedeutung des Begriffs „Guru“ bleibt oft unklar und viele haben Angst vor ihm. Das alte Wort aus dem Sanskrit scheint in unser modernes westliches Bewusstsein gerutscht zu sein und dabei seine spirituelle Bedeutung verloren zu haben. Das ist bedauerlich, denn das Konzept, so nebulös es auch ist, hat in der Yogatradition nach wie vor eine große Bedeutung.

Die Rolle des Gurus wird in Texten beschrieben, die alt genug sind, um als purana („uralt“) bezeichnet zu werden. Im Skanda Purana wird der Guru sowohl als verkörperte Person als auch als eine Präsenz im inneren Leben beschrieben. Als verkörperte Person lehrt der Guru, inspiriert, diszipliniert, vergibt, erzieht, modelliert und gibt die Wahrheiten des Lebens weiter. Solche Lehrerinnen und Lehrer sind Leuchttürme spiritueller Vollendung, auch wenn sie auf Nachfrage oft betonen, dass der Guru weniger eine Person als vielmehr eine innere Quelle der Erleuchtung ist, die das Bewusstsein erweckt und die dunklen Orte des inneren Lebens verwandelt.

Dramatische Begegnungen mit lebenden Gurus sind in den Überlieferungen aller Traditionen erhalten. Während seiner Ausbildung hatte Sri Ramakrishna (an sich eine herausragende Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts) eine Reihe von Gurus. Der erste war eine bengalische Heilige, die einfach Brahmani (die brahmanische Frau) genannt wurde. Sie trat 1861 in Ramakrishnas Leben ein, als er große Schwierigkeiten hatte, seine psychischen Turbulenzen zu bewältigen. Viele hielten ihn für geisteskrank. Die Brahmani war anderer Meinung. Sie überzeugte die führenden Pandits der damaligen Zeit und argumentierte, dass Ramakrishna keineswegs an Wahnvorstellungen litt, sondern ein spirituell verwirklichter Mensch war, der die frühen Stadien einer inneren Entwicklung durchlief. Sie disziplinierte Ramakrishnas Geist liebevoll und lenkte seine intensiven Emotionen in Meditation und andere hingebungsvolle Praktiken.

Nach drei Jahren erschien ein zweiter Meister, Totapuri, um Ramakrishnas Ausbildung fortzusetzen. Ramakrishnas Beschreibung des entscheidenden Moments in ihrer Beziehung ist auch fast 150 Jahre später noch verblüffend. Totapuri bat Ramakrishna, seinen Geist von ekstatischen Visionen abzuwenden und sich auf das Absolute zu konzentrieren. Das konnte der junge Mann nicht. Er fiel immer wieder zurück. Schließlich sagte er verzweifelt: „Es ist hoffnungslos.“ Doch Totapuri, in Ramakrishnas eigenen Worten, “ erregte sich und sagte scharf: ‚Was? Du kannst es nicht tun? Aber du musst es tun.‘ Er schaute sich um. Als er eine Glasscherbe fand, nahm er sie hoch und klemmte sie zwischen meine Augenbrauen. ‚Konzentriere deinen Geist auf diesen Punkt!‘, donnerte er.“ Die letzte Barriere fiel.

In den 1960er- und 70er-Jahren inspirierten Geschichten wie diese eine Generation westlicher Sucher, sich selbst einen Guru zu suchen. Einige gingen nach Indien. Andere wurden durch das plötzliche Auftauchen von bekannten Lehrern im Westen belohnt. Die große Anhängerschaft dieser Lehrer schien ein Beweis dafür zu sein, wie sehr sich viele Menschen nach einem spirituellen Führer sehnten. Doch während einige Schülerinnen und Schüler zu lebenslangen Anhängern der von ihnen entdeckten Linien wurden, waren andere desillusioniert, stellten fest, dass ihre Ideale aus anderen Quellen gespeist werden mussten, oder erkannten, dass sie auf den Lehrer, dem sie begegnet waren, nicht vorbereitet waren.

Ein lebenslanger Schüler werden

Die Geschichten von Begegnungen zwischen spirituell gereiften Schülern und ihren Gurus sind der Stoff, aus dem heilige Geschichten sind, aber die Führung, die du und ich suchen, ist wahrscheinlich weit weniger episch. Wir suchen nach einem Wegweiser, der uns hilft, von dort aus weiterzukommen, wo wir stehen, und so sehr wir die Idee auch schätzen mögen, die Erleuchtung ist nicht der nächste Schritt auf unserer Reise. Bescheidenheit, beständige Praxis und ein wenig mehr Weisheit stehen an erster Stelle. Wir wünschen uns vielleicht einen Lehrer, der unser Leben in die Hand nimmt, aber so funktioniert das nicht. Stattdessen lernen wir, die Essenz des Gurus als inneren Lehrer, als Heiler und als Kraft der Hoffnung und des sich entfaltenden Bewusstseins zu erkennen.

Manche sagen, dass die Mutter der erste Guru ist, und die Ausbildung einer Mutter beginnt früh. Es können Jahrzehnte vergehen, bis die Weisheit, pünktlich ins Bett zu gehen, endlich verinnerlicht ist, aber wahrscheinlich haben wir sie zuerst von unseren Eltern gehört. Sie stellen Regeln auf und erteilen Disziplin, und diese werden zu den ersten Richtlinien, um Ordnung in die endlosen Möglichkeiten des Lebens zu bringen.

Wir wünschen uns vielleicht einen Lehrer, der unser Leben in die Hand nimmt, aber so funktioniert es nicht. Stattdessen lernen wir, die Essenz des Gurus als inneren Lehrer, als Heiler und als Kraft der Hoffnung und des sich entfaltenden Bewusstseins zu erkennen.

Gute Schullehrer kann auch als Guru fungieren. Als wir jung waren, hatten viele von uns das Glück, einzelne Lehrerinnen oder Lehrer zu haben, in deren  Gegenwart unsere Fehler von ungeheuerlichen Sünden in einfache Irrtümer verwandelt wurden. Solche Lehrer korrigieren unsere Fehler liebevoll und sehen sie als Schritte auf dem Weg zur Reife. In der Yogatradition wird dieses Ideal erweitert. Die ersten Stufen des Yoga, die Yamas und Niyamas (Beschränkungen und Observanzen), fungieren als Lehrer und bieten Lektionen an, die unter der Anleitung des Lebens selbst sanft erarbeitet werden können.

Führung von innen finden

Wenn sich Suchende zu sehr auf das Mitgefühl des Lehrenden verlassen, offenbart sich ein weiterer Aspekt des Wesens des Gurus. Der Lehrer pflegt die Disziplin der Praxis. Wenn unsere Abhängigkeit zu stark wird, erweckt ein Lehrer oft unsere Praxis, indem er sich zurückzieht. Der Buddha hat es sehr einfach ausgedrückt, als er sagte: „Zünde deine eigene Lampe an.“

Rabindranath Tagore (Abbildung aus Swami Rama: mein Leben mit den Meistern des Himalayas)

In seinem Buch Sadhana drückt der Nobelpreisträger Rabindranath Tagore wunderschön aus, wie ein spiritueller Lehrer im Angesicht des Aufruhrs Inspiration bietet:

„Wir haben in uns eine Hoffnung, die immer vor unserer gegenwärtigen engen Erfahrung herläuft; sie ist der unsterbliche Glaube an das Unendliche in uns; sie wird niemals eine unserer Behinderungen als dauerhafte Tatsache akzeptieren; sie setzt ihrem eigenen Umfang keine Grenzen; sie wagt zu behaupten, dass der Mensch mit Gott eins ist; und ihre wilden Träume werden jeden Tag wahr.“

Solche Worte erinnern uns daran, wie weit der lehrende Geist in uns mit unseren Fehlern und Schwierigkeiten geht.

Praktisch gesehen werden die meisten spirituellen Lektionen inmitten von Auseinandersetzungen mit der Alltagswelt erteilt. Einer meiner Freunde erzählt von einem einfachen Ereignis, das seine Lebenseinstellung vor vielen Jahren veränderte. Er lebte und arbeitete in einem Ashram, als er eines Tages eigenmächtig beschloss, dass er etwas freie Zeit zum Zeitunglesen verdiente. Er ging die Treppe zu seinem Zimmer hinunter, doch auf dem Weg dorthin traf er einen Mitbewohner, der zu einer Gruppenmeditation hochstieg. Sie grüßten sich und mein Freund ging weiter nach unten und blieb dann stehen. Wie er erzählt, hat ihn die zufällige Begegnung auf der Treppe aufgeweckt. Aus seiner Sicht hatte er eine Botschaft von einem inneren Lehrer erhalten. Er erkannte, dass seine Anhänglichkeit an die Zeitung genau das war – eine Vorliebe, kein Auftrag. Also drehte er sich um und entdeckte eine viel größere Freude am Meditieren. Indem er seinem inneren Guru diente, diente er sich selbst.

Die Wirkung dieser Lektion hing davon ab, wie sensibel mein Freund darauf reagierte. In dem Moment auf der Treppe war er bereit, seine lethargischen Gewohnheiten mit einem frischen und objektiven Blick zu sehen. Wer weiß, warum? Doch dabei wurde ein unproduktives Muster in aller Stille konfrontiert, erhellt und verändert.

Ein Gebet an den Guru

Suchende, die in einer gesunden Beziehung zu einem Lehrenden verankert sind, verstehen, dass der Begriff Guru nicht so sehr ein Titel ist, sondern ein Wort, das eine Verbindung zu den leitenden Kräften des Lebens ausdrückt. Sie wissen, dass der Guru eine halbe Beziehung ist. Der Guru ist schlicht und einfach das Mittel, mit dem ein Schüler die verschiedenen Lektionen meistern kann, die sich im spirituellen Leben ergeben. Da es sich um einen langen Weg handelt, der vom Vertrauen lebt, beginnen viele Praktiken traditionell mit einem Gebet an den Guru. Das folgende Gebet findet sich im Guru Stotram, das von dem Weisen Shankaracharya verfasst wurde:

Guru ist der Schöpfer.
Guru ist der Bewahrer.
Guru ist der Auflöser.
Guru ist wahrlich das grenzenlose Bewusstsein.
Ehrerbietung dem höchsten inneren Lenker.

In diesem Zusammenhang wird das Wort Guru, das in jeder Zeile vorkommt, als Mantra verstanden, ein Klang, der an sich den Aufstieg des Lichts über die Dunkelheit verkörpert. Die Silbe gu bedeutet „Dunkelheit“; ru bedeutet „Licht“. Der Guru ist das lebendige Licht, das die Dunkelheit der spirituellen Unwissenheit vertreibt. Wenn dieses Gebet rezitiert wird, wird es zu einem stillen Flehen um Hilfe und Führung.

Laut der Guru Gita ist dieses Licht niemand anderes als das Selbst in uns:

„Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Guru und der Weisheit des Selbst. Das ist die unumstößliche Wahrheit. Deshalb sollten weise Suchende tatsächlich danach streben, das Selbst zu erlangen.

Das verschleierte Wissen über die Wirklichkeit, die illusorische Welt des Scheins, die Identifikation mit dem Körper – all das entspringt der Unwissenheit. Derjenige, durch dessen Gnade das Selbst erkannt wird, ist unter dem Namen Guru bekannt.“

Der Guru ist schlicht und einfach das Mittel, mit dem ein Schüler die verschiedenen Lektionen meistern kann, die im spirituellen Leben auftauchen.

Dieser Gedanke findet sich auch in der Bhagavad Gita (6:5) wieder:

„Man sollte die Befreiung des Selbst durch das Selbst bewirken.“

Jeder von uns spürt, dass Teile unseres Geistes in einer Dunkelheit existieren, die zugleich vertraut und bindend ist, und wie ein Küken, das aus den Fesseln seiner eigenen Schale schlüpfen will, werden wir vom Ideal des Gurus angezogen. Dort, so spüren wir, finden wir das richtige Tempo für unsere Ausbildung, Unterstützung, wenn wir scheitern, Festigkeit, um den hellen Teil in uns zu erwecken, und ein feines Gespür für spirituelle Führung. Im Guru finden die unbekannten Teile von uns selbst ihren Kenner und Führer. Der Guru ist das Leben selbst und lehrt diejenigen, die er in seinen Händen hält.

Dem Guru gedenken

In Indien wird der Donnerstag traditionell als Tag des Gurus geehrt. An diesem Tag nimmt man sich besonders viel Zeit für Meditation und spirituelle Gemeinschaft oder bringt Brihaspati, dem Guru der hellen Kräfte des Universums und dem Herrn des Gebets, ein Opfer dar. Dieses Gedenken inspiriert zur Hingabe, schützt uns vor unangemessenem Verhalten und lindert den Schmerz vergangener Fehler.

Ebenfalls einmal im Jahr, bei Vollmond im Juli, wird ein besonderer Tag namens Guru Purnima gefeiert, der der Guru-Linie gewidmet ist. An diesem Tag ehren wir die Lehrer, die uns auf unserem spirituellen Weg geführt haben, und nehmen uns einen Moment Zeit, um über ihre Lehren nachzudenken.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im englischen Original im Yoga International Magazin. Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

Rolf Sovik
Rolf Sovik

Rolf Sovik, Präsident und Spiritueller Leiter des Himalayan Institute, Doktor der Psychologie, begann 1972 sein Studium von Yoga und Meditation. Er ist Schüler von Swami Rama und Pandit Rajmani Tigunait und hat unter ihrer Anleitung die Lehren der Himalaya-Tradition erforscht. Er hat Abschlüsse in Philosophie, Musik, Östliche Studien und Klinische Psychologie. Derzeit lebt er mit seiner Frau Mary Gail am Himalayan Institute.

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