Dynamische Stabilität im Fließen des Lebens finden – oder: was Heraklit, Dattatreya und die Nebelschwaden damit zu tun haben
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Von Michael Nickel
so langsam geht der Sommer in den Herbst über und endlich sind auch mal wieder Wolken am Himmel und der Regen spendet das herrliche nass, ohne das Natur und Mensch langfristig verkümmern würden.
Ein Blick auf die Nebelschwaden und ihre ewige Veränderlichkeit
Während ich dies schreibe, entfaltet sich um mich herum nach einer herrlichen Meditation auf dem Balkon ein wunderbarer Morgen. Ich sitze im Bregenzer Wald auf 1500 m Höhe, umgeben von Bergluft, höre dem Regen zu, der auf das Dach trommelt und das Fallrohr der Dachrinne hinuntergluckert. Dabei betrachte ich die Nebelschwaden, die ganz gemächlich und fast schon majestätisch aus dem Tal nach oben wallen und den Blick auf den gegenüberliegenden Berghang mit ihren sich immer verändernden Strukturen garnieren, wie bewegliche Sahnehäubchen …
Die Suche nach Stabilität im Leben ist eine Gratwanderung
Genau wie diese Nebelwolken ewig sich verändern ist auch das Leben ein einziger Fluss an Veränderung. Ganz gleich, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Als Menschen tragen wir wohl alle die Tendenz in uns, die Stabilität zu suchen, was richtig und hilfreich ist, um ein erfülltes Leben zu führen. Diese Suche nach Stabilität ist allerdings ein feiner Grat, denn sie verleitet uns manchmal dazu, uns selber und die Welt als etwas wahrzunehmen, das so nicht mehr vorhanden ist – eben, weil die Dinge um uns herum und wir selber im permanenten Fluss sind.
„Altern“ versus „im Fluss sein“
Die alten Griechen sagten so schön „panta rhei“ – „alles fließt“. Der Philosoph Heraklit, auf den dieser Ausspruch zurückgeht, bringt damit etwas zum Ausdruck, was auch im Kern der gesamten Yogaphilosophie steckt: Das Leben an sich und alles, was damit verbunden ist, unterliegt permanenter Veränderung oder permanentem Wandel.
Interessanterweise nehmen wir Veränderung im Außen anders wahr, als Veränderung, die uns selber betrifft. Sprechen wir nicht davon, dass wir „alt werden“? – Wenn wir diese Worte benutzen, spielen wir meistens darauf an, dass wir etwas nicht mehr können, was wir früher konnten. Darum hat der Ausspruch „Wir werden alt“ für vielen eine negativen Unterton. Hast Du Dich auch schon einmal bei dieser Denk- oder Redensweise ertappt?
Im Gegensatz dazu steht unser Blick auf die Welt: in Relation zur vergehende Zeit wird zwar auch die Welt um uns herum jede Sekunde mit uns gemeinsam älter – doch würden wir auf die Idee kommen, zu sagen „die Welt wird alt“? – Sicher, es gibt die Menschen, die permanent sagen „Früher war alles besser“ – aber das ist zum Glück nur eine Minderheit. Die meisten von uns Menschen betrachten die Welt in ihrem Wandel und stellen dann fest, dass in der Veränderung mal etwas „schlechtes“ liegt und mal etwas „gutes“. Doch auch das ist wieder nur eine Wertung unseres Geistes, der versucht, den Fluss der Zeit und den ewigen Fluss der Veränderung aus der Sicht einer vermeintlichen eigenen Stabilität in Kategorien zu packen, die mit unserem persönlichen Weltbild in Einklang stehen.
Ein Beispiel aus diesem Sommer: Wie wir Sonne und Regen wahrnehmen.
Hört sich sehr theoretisch an, wird aber vielleicht an einem Beispiel klar: Nach diesem ewigen Sommer mit ewiger Hitze und ewigem Sonnenschein habe ich noch nie so viele Menschen gehört, die sagen, „es reicht jetzt mit der Sonne!“ oder „ach wie schön, es regnet endlich mal wieder!“. Diese unterschwellige Wertung von Sonne als „schlecht“ und Regen als „gut“ steht ja buchstäblich Kopf zu dem, was man in deutschsprachigen Raum sonst so im Sommer hört, oder nicht? Sonnenschein ist „schlechtes Wetter“ und Regen ist buchstäblich „segensreich gut“ … – Diese Wertung kommt aus einer Wahrnehmung einer subjektiven Stabilität des ewigen, heißen Sommers.
Doch lass es dann mal eine Woche durchregnen und hör dann nochmal hin, was wir alle so sagen … Dann sehnen wir uns nach Sonne und nehmen den die relativ kurze Periode von Regenwetter als „schlechtes Wetter“ wahr. Wir nehmen uns also offensichtlich nach kurzer Zeit immer wieder in eine vermeintlichen „ewigen Stabilität“ wahr, aus der heraus wir werten.
Was, wenn die vermeintliche Stabilität wegbricht?
Wie Herakles und auch die alten Yogaphilosophen festgestellt haben ist diese vermeintliche ewige Stabilität eine Illusion, die wir uns selbst schaffen – und dazu eine Illusion, die uns in eine herausfordernde Situation versetzt. Das ist derzeit wohl für die Meisten von uns zu spüren: Die Energiekrise in Europa zieht vielen den stabilen Boden eines bequemen Status Quo unter den Füßen weg. Ein vermeintlich stabiler Status Quo, mit dem wir jahrzehntelang gelebt haben. Nun bricht diese Stabilität weg oder vielmehr: die Veränderung, die permanent da war ist so schnell geworden, dass wir es als „radikalen Zeitenwechsel“ wahrnehmen und hilflos dastehen, weil unsere üblichen Reaktionsmuster nicht mehr die gewünschte Wirkung haben. Doch was „hilft“ dann dagegen?
Stabilität im Fließen zu finden ist die Antwort
Uns selbst im Sinne von „panta rhei“ bewusst als ewig veränderlich wahrzunehmen – oder zumindest nach und nach zu lernen, die ewigen winzig kleinen Veränderungen an uns selbst und in unserem Umfeld feiner und feiner wahrzunehmen, hilft uns, momentane und adaptive Stabilität in jedem Moment zu finden. Dies ist ein Aspekt dessen, was wir in jeder Yogastunde in der Selbstwahrnehmung üben. So wie unsere beiden Lendenmuskeln uns in unserem aufrechten Gang von Schritt zu Schritt in einer dynamischen Stabilität halten, so kann uns unser Geist bei unserem Fluss durch das Leben in jedem Moment einen relativen Ankerpunkt geben, der momentane Stabiltät und momentanen Bezug schenkt, ohne dass wir uns lange an etwas festkrallen, das nur kurze Zeit Bestand hat. Wenn wir dagegen „mit allem mitfließen“ und die Welt wie uns selbst als veränderlich akzeptieren, dann bleiben wir zentriert und laufen weniger Gefahr, irgenwann vor der Erkenntnis einer Veränderung zu stehen, die uns als „plötzlich“ erscheint, aber in Wahrheit schon lange graduell abgelaufen ist und weiter abläuft.
Die Nebelschwaden als Lehrer im Fach „ewiges Fließen“
Die Nebelschwaden vor dem Balkon hier fließen immer noch – wunderschön dynamisch anzusehen. So nehme ich diese Nebelschwaden heute als Lehrer – als „Guru„, wie man in der Yogaphilosophie sagt. So wie in der schönen Geschichte von Dattatreya , der nach seinen Gurus gefragt wird und dann einen nach dem anderen von 24 Aspekten der Natur aufzählt und was er von ihnen gelernt hat. Wäre ich Dattatreya könnte ich heute also sagen:
„Mein Guru war die Nebelschwade. Von ihr habe ich gelernt, gelassen mitzufließen und mich dem ewigen Kreislauf von Entstehung, dynamischem Sein und Auflösung mit Freude und Genuss hinzugeben.„
Herzlichst, Dein
Michael
Die Haupt-Illustration zu diesem Gedankenfutter wurde speziell für diesen Beitrag mit Hilfe von DreamStudio AI erzeugt, unter Verwendung einer künstlichen Intelligenz, die aus beschreibenden Texten Bilder generiert, dabei wurde der Stil von Nicholas Roerich zugrunde gelegt, der lange Jahre in Manali im Himalaya gelebt hat und sich gemeinsam mit seiner Ehefrau Helena Roerich sehr für Yogaphilosophie und Meditation interessiert hat.