Unser Planet und wir: Die inspirierenden Lehren der tantrischen Seher für eine nachhaltige Zukunft

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Lesedauer 19 Minuten

Von Pandit Rajmani Tigunait

Lange bevor wir lernten, die natürliche Welt mit Dämmen, Autobahnen und Wolkenkratzern zu verändern, wussten die Weisen, dass nichts in der Schöpfung getrennt von etwas anderem existiert, dass eine Lebenskraft alles belebt, was ist. Zufrieden mit der Natur und ihren einfachen Behausungen waren die alten Meister aufmerksame Beobachter der natürlichen Welt. Sie wussten, dass Berge und Flüsse, Wind und Wolken, Wasser und Feuer allesamt Lebewesen sind, die ein Bewusstsein besitzen. Sie verstanden den Zusammenhang zwischen dem Gesang der Vögel und dem Wachstum ihrer Ernte. Sie verstanden die Botschaft, die die Natur sendet, wenn Schakale in der Mittagszeit heulen und Ameisen ihre Kolonien verlassen und ihre Eier in höher gelegene Gebiete tragen. Die Weisen beobachteten das empfindliche Gleichgewicht des Ökosystems und die lang anhaltenden Auswirkungen auf alle Aspekte des Lebens, wenn dieses Gleichgewicht gestört wird. Und sie sahen, was wir verlernt haben zu sehen: dass wahres Glück und wahre Erfüllung darauf beruhen, die Verbindung zwischen allem, was in dieser Schöpfung existiert, zu verstehen und zu ehren.

Heute wird die meiste Forschung in Hightech-Laboren und Bibliotheken betrieben, doch die Altvorderen betrieben ihre Forschung im Labor der Natur. Sie lernten, mit ihr zu kommunizieren und mit ihren Abläufen zu kooperieren. Diejenigen, die einen Kommunikationskanal mit der Natur eröffneten, beherrschten ihre Sprache – die Sprache der Intuition. Sie wurden als Rishis (Seher) bezeichnet, weil ihnen das Reich jenseits der materiellen Welt offen stand.

Die erste Offenbarung, welche die Seherinnen und Seher erhielten, war, dass nichts in der Natur träge ist: Sie sahen die Intelligenz, die allem Existierenden innewohnt, und sie erkannten, dass es letztlich nur ein Wesen gibt. Sie nannten dieses Wesen Purusha (Bewusstsein) und wussten, dass alle Wesen des Universums – sowohl empfindungsfähige als auch scheinbar empfindungslose – ein wesentlicher Teil dieser göttlichen Kraft sind. Sie wussten, dass Purusha seine unendliche Herrlichkeit und Weite durch seine unzähligen Erscheinungsformen erfährt: alle Sterne, Planeten, Berge, Flüsse, Pflanzen, Tiere und Mineralien, jede Mikrobe und jedes Molekül.

Diejenigen, die einen Kommunikationskanal mit der Natur geöffnet hatten, beherrschten ihre Sprache – die Sprache der Intuition.

Narayana, der Weise, der diese Offenbarung als erster erhielt und formulierte, wurde als Adi Rishi (der erste Seher) bekannt. Das Wissen, das er in den 16 Mantras, die als Purusha Sukta bekannt sind, weitergibt, kann als Urtext der kosmischen Ökologie gelesen werden. Diese Mantras enthüllen das Universum als ein nahtloses Wesen mit einer Unendlichkeit von Köpfen, Augen, Ohren und Gliedern, das alles Existierende bedeckt und durchdringt, aber dennoch über und jenseits von ihm bleibt. Doch weil die Art und Weise, wie der erste Seher das Netz des Lebens und den Platz des Menschen darin beschreibt, so sachlich und prägnant ist, tun die meisten Gelehrten die Ideen in diesen Mantras als bloßen Mystizismus ab.

Doch auch andere alte Quellen, welche die in der Purusha Sukta so prägnant dargestellten Konzepte weiter ausführen, betrachten die Natur in ihrer ganzen Vielfalt als den sichtbaren, greifbaren Körper des Göttlichen. In Kapitel 10 der Bhagavad Gita verkündet Krishna zum Beispiel: „Unter den Lichtern bin ich die Sonne; unter den Vasus bin ich das Feuer; unter den Gipfeln bin ich Meru; unter den Gewässern bin ich der Ozean; unter den Bergen bin ich der Himalaya; Unter den Bäumen bin ich der Pipal; unter den Pferden bin ich Uchchaih-shravas; unter den Schlangen bin ich Vasuki; unter den reinigenden Kräften bin ich der Wind; unter den fließenden Flüssen bin ich die Ganga; unter den Jahreszeiten bin ich der Frühling. Nichts in der Welt – beweglich oder unbeweglich, belebt oder unbelebt – kann ohne mich sein.“

Tantra-orientierte Schriften gehen sogar noch weiter ins Detail. Wenn die Weisen im Lalitopakhyana der Brahmanda Purana zum Göttlichen beten, sagen sie: „Das himmlische Reich ist dein Kopf; der Himmel ist deine Kleidung; die Wolken sind deine Locken; die Sonne und der Mond sind deine Augen; die Erde ist dein Schoß; die Pflanzen sind die Haare auf deinem Körper; der Wind, dein Atem.“ Tantrikerinnen und Tantriker behaupten, dass der Planet Erde und alles, was er enthält, eine bewusste Einheit ist, auch wenn es scheinen mag, dass der Planet von uns getrennt ist. Scheinbar werden wir geboren und sterben, während der Planet weiterlebt – aber in Wahrheit ist das, was wir als Geburt und Tod erleben, einfach das Bewusstsein der Erde, das bestimmte Formen von Materie und Energie annimmt und sie dann wieder verlässt, um andere Formen zu bewohnen.

Anhand des Modells, welches die Weisen in den Veden und Upanishaden formulierten, untersuchten die Tantriker die vereinigende Natur der Intelligenz in den verschiedenen Formen der Schöpfung und kamen so zu dem Verständnis, wie das Leben in einem Aspekt der Natur von anderen Aspekten beeinflusst wird; wie Gesundheit oder Krankheit in einer Lebensform andere Formen beeinflusst; wie Bäume und Unterholz sich gegenseitig schützen und nähren; wie ein Fluss den Fischen Leben gibt – und ohne sie leblos wird. Sie erkannten, dass nichts für sich selbst existiert: Jede Lebensform gibt anderen Formen Leben.

Wie die Weisen vor ihnen erkannten auch die tantrischen Meister, dass nichts statisch bleibt: Eine Form von Materie, eine Form von Energie, ein Bewusstseinszustand löst sich ständig in andere Formen auf. Die tantrischen Adepten verstanden, dass dieser Transformationsprozess von Naturgesetzen gesteuert wird – und dass ein spirituelles Leben bedeutet, im Einklang mit diesen Gesetzen zu arbeiten, die das Netz des Lebens weben und nähren.

Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich dafür entscheiden kann, die Naturgesetze zu befolgen oder sie zu verletzen. Alle anderen Lebewesen werden vom Instinkt beherrscht und stehen daher in direktem Kontakt mit der Natur. Der Mensch ist mit Intelligenz begabt, und diese Intelligenz ist durch den freien Willen gekennzeichnet, der den Instinkt beherrscht. Wir sind ein integraler Bestandteil des Netzes des Lebens – doch unser freier Wille lässt uns die Wahl, ob wir unsere Verbindung mit der Natur anerkennen oder versuchen, uns abzugrenzen. Wenn wir diese Gabe nutzen, um diese Verbindung bewusst anzuerkennen, machen wir uns zu Instrumenten der Harmonie; wenn wir diese Gabe ignorieren, werden wir unwissentlich zu Agenten der Zerstörung.

Alles durchdringt Alles

Als dominante Spezies sind wir Menschen die Hüter dieses Planeten. Was immer wir unserer Umwelt, uns selbst und den Kräften der Natur antun, hat weitreichende Folgen für das Netz des Lebens. Wenn wir nicht lernen, die Illusion zu durchschauen, dass die Kräfte der Natur – zum Beispiel Berge und Flüsse – von uns getrennt sind, wenn wir nicht erkennen, dass wir tatsächlich in Form dieser Berge und Flüsse existieren, werden wir sie als Ware betrachten und die Früchte unserer Blindheit ernten, so wie wir es bisher getan haben. Solange wir den Eindruck haben, dass die Kräfte der Natur von uns getrennt sind, werden wir sie weiterhin zerstören, ohne zu begreifen, dass wir uns dabei selbst zerstören.

Doch wie können wir diese Illusion zerstören? Es ist relativ einfach, philosophisch zu verstehen, dass wir Teil des organischen Körpers des Planeten sind, aber es ist schwierig, dies in unserem täglichen Leben zu erfahren, und fast unmöglich, dieses Wissen in die Praxis umzusetzen. Doch wenn wir das nicht tun, wird die Zerstörung unserer Ökosysteme weitergehen. Wir müssen lernen, was die Weisen wussten: Der Schlüssel liegt darin, eine Verbundenheit mit der Natur zu entwickeln. Wir müssen lernen, uns selbst in der Schöpfung und die Schöpfung in uns zu sehen.

Was immer wir unserer Umwelt, uns selbst und den Kräften der Natur antun, hat weitreichende Folgen für das Netz des Lebens.

Indem sie sich selbst und die natürliche Welt studierten, entdeckten die großen Yogis eine detaillierte Gleichung zwischen dem menschlichen Körper und der äußeren Welt und beschrieben dann die genaue Entsprechung zwischen den Energien bestimmter Körperteile und den Energien bestimmter Aspekte der Natur. Diese Gleichung fand ihren Niederschlag in verschiedenen Zweigen der Yogawissenschaft, von denen der zugänglichste das kosmologische Schema des Kundalini Yoga ist, in dem es sieben Bewusstseinszentren im menschlichen Körper gibt, die als Chakras bekannt sind. Das unterste Zentrum befindet sich an der Basis der Wirbelsäule und entspricht dem Erdelement – Solidität, Stabilität, Festigkeit, Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind seine Kennzeichen. Das zweite Bewusstseinszentrum, das sich im Beckenbereich befindet, entspricht dem Wasserelement und zeichnet sich durch Flexibilität, Fließfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Weichheit und Kohäsion aus.

Wenn die subtilen Kräfte von Erde und Wasser, von Festigkeit und Flüssigkeit, aus dem Gleichgewicht geraten, erleben wir dieses Ungleichgewicht nicht nur auf der Körperebene, sondern auch auf der Ebene der Emotionen, denn diese beiden Zentren sind die Quelle von Angst, Unsicherheit, Verlangen, Anhaftung und sinnlichem Verlangen. Wenn die Energie in diesen Zentren schwach oder unausgeglichen ist, werden diese Tendenzen unkontrollierbar. Die Folgen davon sehen wir in der Welt um uns herum. Viele der heutigen körperlichen und geistigen Probleme hängen mit diesen ersten beiden Bewusstseinszentren zusammen: Auf der emotionalen Ebene werden wir von Angst, Unsicherheit und unstillbarem Verlangen nach Sinneseindrücken heimgesucht; auf der körperlichen Ebene treten immer häufiger Krankheiten auf, die mit dem Bereich um und unter dem Nabelzentrum zusammenhängen – Eierstöcke, Hoden, Prostata, Gebärmutter, Nieren, Blase und Dickdarm.

Das ist nicht überraschend. Vedischen und tantrischen Quellen zufolge sind Probleme mit den Organen, die den beiden untersten Chakren entsprechen, unvermeidlich, wenn die Erde mit Chemikalien vergiftet, der Boden ausgelaugt und das Wasser verschmutzt ist. Der Grund dafür ist einfach: Yatha bhramande tatha pindande – „Was in der Welt außerhalb von uns geschieht, geschieht auch in uns.“ Wir bringen die Rhythmen der Natur ständig durcheinander. Indem wir zum Beispiel Hühnerfutter mit Hormonen und Antibiotika versetzen und künstliches Licht verwenden, um alle 24 Stunden vier vollständige Tag- und Nachtzyklen zu erzeugen, haben wir es geschafft, vier Eier pro Tag von einem Huhn zu bekommen. Aber weil wir nicht wissen, dass wir eins mit der Natur sind, sehen wir die Konsequenzen nicht. Um die Produktivität unserer Felder und Molkereien zu steigern, haben wir die Natur so sehr gestört, dass Kinder im Alter von acht Jahren in die Pubertät kommen und manche sogar sexuell aktiv werden. Die Komplikationen im Zusammenhang mit der Fortpflanzung nehmen dramatisch zu. So ist zum Beispiel die Spermienproduktion des durchschnittlichen amerikanischen Mannes in den letzten 30 Jahren um 30 Prozent zurückgegangen, ein Rückgang, der so stark ist, dass, wie Carl Sagan in Milliarden und Abermilliarden feststellte, „wenn es so weitergeht, die Männer im Westen bis zur Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts unfruchtbar werden könnten“.

Yatha bhramande tatha pindande – „Was in der Welt außerhalb von uns geschieht, geschieht auch in uns.“

Unser Ego behauptet, dass wir getrennte, überlegene Wesen sind, und wir glauben das auch. Doch aus der Perspektive des Weltraums ist es offensichtlich, dass die Erde ein einziges Lebewesen ist. So wie Milliarden von Zellen, Keimen und Bakterien in unserem Körper leben, leben wir Menschen und alle anderen Lebensformen im Körper der Erde. Wenn wir uns Medikamente in die Venen spritzen, wirkt sich das auf unseren gesamten Körper und Geist aus; wenn wir essen, werden sowohl die Nährstoffe als auch die Giftstoffe in der Nahrung im ganzen Körper verteilt. Ähnlich verhält es sich, wenn die Erde in einem Teil des Globus unter Drogen gesetzt wird (wenn zum Beispiel Chemikalien in Form von Atommüll in den Schoß der Erde injiziert oder in Form von Schwefelsäure in die Atmosphäre geschüttet werden), dann leiden die Erde und die unzähligen Lebensformen, die sie beherbergt, zwangsläufig.

Die Ursache eines Zustands liegt nicht unbedingt an dem Ort, an dem er sich manifestiert. Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) und andere von Menschen hergestellte Verbindungen, die in den Industrieländern produziert werden, haben ein Loch in die Ozonschicht über der Antarktis gerissen, das doppelt so groß wie Europa ist und jedes Jahr größer wird. Der daraus resultierende Anstieg der ultravioletten Strahlung hat die Ernteerträge einiger Feldfrüchte verringert und wird mit einer höheren Zahl von Hautkrebserkrankungen und grauem Star in Verbindung gebracht, selbst in Gegenden ohne Schwerindustrie. Die Luftverschmutzung in Städten wie Mexiko-Stadt, Delhi, Peking, Los Angeles und Hongkong beschränkt sich nicht auf diese Städte, sondern breitet sich in der gesamten Atmosphäre aus und beeinträchtigt die Luft an so abgelegenen Orten wie den Anden und dem Himalaya.

Das gilt für unseren Körper genauso wie für das Ökosystem. Wenn Krebs zum Beispiel die Brust oder den Dickdarm befällt, hat die Ursache den Körper und den Geist durchdrungen; die Krankheit manifestiert sich einfach in dem Organ, das am anfälligsten ist. Und wie die Schulmedizin, die in der Regel ein Leiden in einem Teil des Körpers isoliert vom Rest des Organismus behandelt, konzentrieren sich auch Ökologen und Naturforscher oft nur auf einen oder zwei Aspekte der Natur. Aber Blauwale, Timberwölfe, Tiger und der Fleckenkauz sind nur einige Stränge des Lebensgefüges. Die Bemühungen, sie zu erhalten, werden bestenfalls einen vorübergehenden Erfolg haben, wenn wir uns nicht um die Krankheiten unseres Planeten kümmern, bevor sie unheilbar werden.

Die Ursache einer Krankheit liegt nicht unbedingt an dem Ort, an dem sie sich manifestiert.

Dass die Erde krank ist, daran gibt es keinen Zweifel. Ihre Vitalität nimmt ab, ihr Nervensystem und ihre Organe sind im Eimer und ihr Immunsystem ist angeschlagen. Die Beweise dafür sind überall zu finden. Inzwischen kennen wir alle die offensichtlichsten Symptome: die globale Erwärmung, den sauren Regen und die große Zahl der Arten, die mit jedem Jahrzehnt aussterben. Aber es gibt auch subtilere, aber aussagekräftigere Anzeichen. So werden zum Beispiel starke Kräuter wie Ashwagandha und Ginseng, die noch vor wenigen Jahrzehnten die Lebenskraft eines Menschen in drei Tagen wieder auffüllen konnten, allmählich unwirksam. Und Frösche, die sogar solch eine globale Katastrophe überlebt haben, die die Dinosaurier auslöschte, schlüpfen nun mit schweren Missbildungen.

Die Menschen in den alten Kulturen wussten, was wir erst jetzt entdecken: dass Frösche eine „Sentinel-Spezies“ sind, die als Frühwarnsystem für ein ernsthaftes ökologisches Ungleichgewicht dient, das noch zu subtil ist, um mit anderen Mitteln entdeckt zu werden. Im Gegensatz zu anderen Amphibien und Wasserbewohnern sind die Stoffwechselfunktionen von Fröschen – insbesondere die der Leber, in der eine Vielzahl von Stoffen aus dem Körper verarbeitet wird – denen des Menschen bemerkenswert ähnlich. Wenn sich ihr Wohlbefinden verschlechtert, verschlechtert sich auch unseres.

Da die alten Weisen dies intuitiv wussten, widmeten sie eine Reihe von Mantras den Fröschen und ihrer Rolle im Zusammenhang mit Regenfällen, üppigen Ernten und einem ausgeglichenen Ökosystem, was letztlich die Gesundheit und das Glück der Menschen fördert. Diese Mantras, die in dem ältesten aller Texte, dem Rig Veda, niedergeschrieben sind, heißen Manduka Sukta (Die Mantras zu den Fröschen). Sie sprechen von Fröschen als göttlichen Wesen. Es ist zu einfach – und auch grob falsch – dies als eine primitive Form des Animismus abzutun. Um diese Mantras zu verstehen, müssen wir begreifen, was die alten Meister unter Göttlichkeit verstanden. Yoga sagt uns, dass wir unseren kranken Planeten heilen und verhindern können, dass wir nur eine weitere aussterbende Spezies werden, wenn wir ihre Definition von Göttlichkeit wirklich verstehen und annehmen.

Alles ist heilig

Das Wort für „göttlich“ im Sanskrit ist deva, was „leuchtendes oder helles Wesen“ bedeutet. Ein leuchtendes Wesen ist eines, das Licht ausstrahlt und sich selbst und andere erhellt. Es leuchtet, weil es anderen selbstlos dient. Sobald es aufhört zu geben, leuchtet es nicht mehr und ist somit per Definition nicht mehr göttlich. Die entscheidende Tugend der Göttlichkeit ist das Geben. Nichts in der Natur existiert für sich selbst. Jede Lebensform – vom Mineral über die Pflanze bis zum Tier – dient anderen Lebensformen. Mineralien versorgen die Pflanzen mit Nährstoffen, Pflanzen die Tiere und Tiere die Pflanzen und sich gegenseitig. Die Weisen, deren Vision subtil genug war, um dieses Geben als das zu erkennen und zu erfahren, was es ist, nannten daher die verschiedenen Formen und Kräfte der Natur Deva.

Nehmen wir zum Beispiel das Wasser. Wie kann Wasser unseren Durst stillen und das Leben erhalten, wenn es nicht von Natur aus mit göttlicher Energie aufgeladen ist? Lassen wir Anatomie und Biochemie für einen Moment beiseite und denken wir wie ein Philosoph. Wasser ist mehr als die Verbindung H2O. In ihm liegt die Kraft des Erhalts. Wasser ist Deva – ein göttliches Wesen, das seinen Körper als Lebensgrundlage zur Verfügung stellt und seit dem Beginn der Schöpfung nie aufgehört hat, sich selbst zu teilen.

Die Altvorderen, die sehr naturverbunden lebten und die Welt mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf wahrnahmen, konnten das Göttliche in Flüssen, Bergen, Bäumen, Kräutern und Tieren sehen. Für sie war der Fluss, der außerhalb von Sri Nagar im Himalaya fließt, nicht nur ein Wasserfall, sondern eine Göttin, eine fließende Gottheit, die sie Dhari Devi (die Göttin des Stroms) nannten. Sie sahen das Göttliche in den Flüssen Yamuna, Narmada und Kaberi und auch in Ganga. Bis heute werden die Gipfel im Himalaya und im Vindhya-Mittelgebirge als verschiedene Manifestationen des Göttlichen angesehen. Der Berg Kailash zum Beispiel ist nach Ansicht der Tibeter, Inder und Chinesen der sichtbare Körper Gottes; ein anderer Gipfel, der nach der Göttin Nanda Devi benannt ist, ist die sichtbare Form der kosmischen Freude.

In der tantrischen Literatur werden Pflanzen mit anerkanntem medizinischen Wert (wie Neem, Pipal, Madar, Shami, Durva, Aparajita und Tulsi) als Göttinnen angesehen. In abgelegenen Dörfern in Indien, Nepal und Tibet, in denen die moderne Zivilisation noch nicht Einzug gehalten hat, erkennen die Menschen die Gegenwart des Göttlichen in Kühen, Ameisen, Fröschen, Schlangen, Elefanten und Affen. In der indischen Mythologie wird der Löwe als Träger der Göttin Durga beschrieben, der Stier als Träger von Shiva, die Ratte als Träger von Ganesha, der Hund als Träger von Bhairava, der Schwan als Träger von Sarasvati, der Adler als Träger von Vishnu und der Wasserbüffel als Träger von Yama des Herrn des Todes. Diese Assoziationen sind zwar mit kulturellem Ballast beladen, aber sie zeigen auch, dass die Fackelträger der vedischen Kultur verstanden haben, dass diese scheinbar unbedeutenden Kreaturen ein so integraler Bestandteil des Göttlichen sind, dass es sich ohne sie nicht bewegen kann. Mit anderen Worten: Die alten Meister erkannten, dass allen physischen Manifestationen der Natur eine von Bewusstsein durchdrungene Energie zugrunde liegt. Indem sie dies erkannten, öffneten sie ihre Herzen für diese Kräfte. Indem sie das Heilige im scheinbar Alltäglichen erkannten, entwickelten sie die Sensibilität und geistige Kraft, um mit allen Kräften der Natur zu kommunizieren. Diese Sensibilität ermöglichte es ihnen, die spirituelle Dimension der Medizin, der Alchemie, des Gartenbaus, der Edelsteinkunde, der Astrologie, der Architektur und der verschiedenen Zweige der Künste und Wissenschaften zu entdecken.

Diese großen spirituellen Naturforscher waren auch Realisten. Sie wussten, dass nicht alle Menschen ihr Einssein mit der Natur verstehen würden und dass die Menschen sie ohne dieses Verständnis ausbeuten würden. Sie sahen voraus, dass Unwissenheit, Begierde und Besitzdenken dazu führen würden, dass wir die natürlichen Ressourcen nur noch als Objekte für unseren Konsum betrachten und dass wir, weil der Appetit mit dem wächst, wovon er sich ernährt, über die Maßen konsumieren würden, ohne die Folgen zu bedenken.

So kam es, dass Manu, der die große Flut überlebte und zum Gesetzgeber der menschlichen Spezies wurde, verfügte, dass alle Menschen drei angeborene Schulden zurückzahlen müssen: pitri rina (Schulden der Vorfahren), rishi rina (die Schulden, die wir denjenigen schulden, die zu unserem Wissen beigetragen haben) und deva rina (unsere Schulden gegenüber dem Göttlichen). Mit anderen Worten: Nach den Regeln, die Manu und die Weisen nach ihm aufgestellt haben, ist es unsere Pflicht, uns um unsere Eltern zu kümmern und unsere Dankbarkeit gegenüber denjenigen zu zeigen, die zum Fortbestand des Stammbaums, in den wir hineingeboren wurden, beigetragen haben. Es ist auch unsere Pflicht, die Gelehrten, von deren Wissen und Erfindungen wir heute profitieren, zu lieben, zu respektieren und ihnen unsere Dankbarkeit zu zeigen. Die dritte Schuld ist die wichtigste: Wir müssen den göttlichen Kräften, die unser Leben nähren und erhalten – dem Wind, dem Wasser, dem Feuer, den Wolken, den Bergen, den Flüssen, den Pflanzen, den Tieren und dem Boden – durch Verehrung zurückzahlen. Das ist eine Pflicht für die gesamte Menschheit.

Lassen wir uns nicht von den religiösen Konnotationen des Wortes „Verehrung“ in die Irre führen. Hier bezieht es sich nicht auf etwas Liturgisches oder auf irgendeine Art von äußerer Zurschaustellung. Es bedeutet, die Tatsache anzuerkennen, dass die Kräfte der Natur Gebende sind und wir Empfangende. Die einfachste Form der Verehrung besteht darin, diese grundlegenden Kräfte nicht zu verschmutzen oder anderweitig zu schädigen. Eine höhere Form der Anbetung besteht darin, auf die Heilung des verletzten Teils der Natur hinzuarbeiten, unabhängig davon, ob die Verletzung von uns oder von anderen verursacht wurde. Zu diesem Zweck haben uns die Weisen ein umfassendes Mittel zur Heilung der Natur an die Hand gegeben, indem sie an der Entgiftung und Revitalisierung ihrer verschiedenen Aspekte arbeiten – des Raums, der Luft, der Wolken, des Bodens und all dessen, was in, auf und um die Erde herum existiert.

Die einfachste Form der Verehrung besteht darin, diese grundlegenden Kräfte nicht zu verschmutzen oder anderweitig zu schädigen.

Das kann durch yajña geschehen, was „Opfer“ bedeutet. In Kapitel 3 der Bhagavad Gita wird erklärt, dass es eine Vielzahl solcher Opfer gibt, doch der Grundgedanke ist, etwas wegzugeben, selbst auf Kosten unseres eigenen Komforts. Mit anderen Worten: Unsere persönlichen Interessen für das höhere Wohl zu opfern, ist die Essenz von yajña. Uns im Einklang mit den Gesetzen der Natur zu verhalten und sie zu pflegen, ist der beste Weg, der Schöpfung zu dienen: Das Leben der Lebewesen hängt von der Nahrung ab, die sie zu sich nehmen. Die Qualität der Nahrung ist abhängig von der Qualität des Wassers. Die Qualität des Wassers hängt von den Stoffen ab, die wir in die Atmosphäre einbringen. Was wir in die Atmosphäre einbringen, hängt von unseren Handlungen ab. Die Handlungen, mit denen wir die nährenden Substanzen wieder in die Atmosphäre einbringen, nennt man yajña. Damit nähren wir die Luft, die Wolken, das Wasser und damit auch den Boden (und damit die gesamte Nahrungskette) sowie die persönliche und kollektive Entwicklung.

Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Atmosphäre zu nähren, doch die beste und effektivste ist Japa (Meditation über ein Mantra), weil sie den Geist reinigt und ihn auf einen Punkt ausrichtet. Die Energie, die von einem gereinigten, auf einen Punkt ausgerichteten Geist ausgeht, hat eine tiefgreifende Wirkung auf die Atmosphäre und alle Kräfte, die mit ihr verwoben sind. Mit anderen Worten: Durch die Kraft des Mantras kann man die subtilen Kräfte, die im Bereich des Geistes und des Bewusstseins wohnen, verstärken und die Kräfte in der Außenwelt hervorrufen. Bei diesem Prozess beginnen Reinigung und Ernährung von innen – die Kräfte der Natur erwachen zuerst im Inneren, und als Reaktion auf dieses Erwachen erwachen die Kräfte in der Außenwelt. So entsteht Heilung im Mikrokosmos und im Makrokosmos.

Doch es ist nicht einfach, Zugang zum inneren Bereich zu erhalten und das subtile Bewusstseinsfeld zu beeinflussen. Neben einem auf einen Punkt ausgerichteten Geist erfordert diese Form von Yajña das Wissen, wie die Energien der verschiedenen Gliedmaßen und Organe des Körpers mit den verschiedenen Kräften der Natur korrespondieren. Da die meisten Menschen dieses Wissen nicht haben, haben die Meister auch äußere, rituelle Wege zur Entgiftung und Wiederbelebung der Natur aufgezeigt. Das Feuer ist ein zentraler Bestandteil dieser äußeren Yajña, ebenso wie das Wissen über Alchemie und Mantra. Dieser Ansatz erfordert ein Verständnis der Eigenschaften von Kräutern, Körnern, Mineralien und anderen natürlichen Stoffen sowie die genaue Methode, sie zu kombinieren und sie zusammen mit den entsprechenden Mantras ins Feuer zu legen. Wenn die Yajña richtig durchgeführt wird, geben diese Substanzen ihre reinigenden und nährenden Eigenschaften an die Atmosphäre ab, während sie vom Feuer verzehrt werden. Bestimmte Mantras, die mit bestimmten Zutaten kombiniert werden, führen zu einem bestimmten Ergebnis. Das Agnistoma zum Beispiel ist ein Ritual, das darauf abzielt, das Feuer selbst zu reinigen und zu energetisieren, damit dieses wesentliche Element des Lebens gesund wird und andere Kräfte inspiriert, in Harmonie zu arbeiten.

Diese vedischen Rituale sind nicht religiöser Natur. Anders als die Rituale, die einen großen Teil der religiösen Praktiken ausmachen, versprechen diese Yajñas den Praktizierenden keinen sicheren und angenehmen Platz im Himmel; stattdessen schaffen sie einen sicheren und angenehmen Himmel hier in dieser Welt. Wie diejenigen, die mit den Prinzipien der Physik, Metaphysik, Alchemie und Spiritualität vertraut sind, wissen, überschreitet diese Form des Rituals alle religiösen Grenzen und bringt das Heilige in unsere alltägliche Existenz. Dies ermöglicht es uns, das Göttliche in unserer Umgebung zu sehen und zu verehren und gibt uns eine neue Definition von Dienst und Gottesdienst.

Durch Yajña (sowohl den inneren, meditativen Ansatz als auch den äußeren, rituellen Ansatz) können wir uns in der Gnade des Göttlichen sonnen und uns an der Erfahrung unserer Einheit mit den größeren und subtileren Gegenstücken dieser Schöpfung erfreuen. Diese Erfahrung des Einsseins mit der Schöpfung ermöglicht es uns, die Einfachheit und Großzügigkeit der Natur zu schätzen und die Verbindung zwischen allem, was existiert, zu ehren. Die Erkenntnis, dass die gesamte Schöpfung eine einzige glorreiche Manifestation der Göttlichkeit ist, ist untrennbar mit dem Verständnis verbunden, dass wir uns selbst schaden, wenn wir einen Aspekt der Natur verletzen. Dies ist die Grundlage für eine tiefe und dauerhafte Heilung unseres Planeten und von uns selbst.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Originalsprache im Magazin Yoga International, mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute, USA. Übersetzt von Michael Nickel.

 

Pandit Rajmani Tigunait
Pandit Rajmani Tigunait

Pandit Tigunait, der spirituelle Leiter des Himalayan Institutes (USA), ist der Nachfolger von Swami Rama aus dem Himalaya. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert lehrt und unterrichtet er weltweit und ist Autor von mehr als 15 Büchern, darunter seine kürzlich erschienenen "The Secret of the Yoga Sutra" ("Das Geheimnis des Yoga Sutra" im Frühjahr 2019 auf deutsch bei Angi Verlag) "The Practice of the Yoga Sutra" und seine Autobiographie "Touched by Fire: The Ongoing Journey of a Spiritual Seeker". Pandit Tigunait hat zwei Doktortitel: einen in Sanskrit von der University of Allahabad in Indien und einen in Oriental Studies von der University of Pennsylvania in USA. Die Familientradition gab Pandit Tigunait Zugang zu einer großen Bandbreite spiritueller Weisheit, die sowohl in den schriftlichen als auch in den mündlichen Traditionen bewahrt wurde. Bevor er seinen Meister traf, studierte Pandit Tigunait Sanskrit, die Sprache der alten Schriften Indiens, sowie die Sprachen der buddhistischen, Jaina und zoroastrischen Traditionen. 1976 ordinierte Swami Rama Pandit Tigunait in die 5.000 Jahre alte Linie der Himalaya-Meister.

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