Was ist Sri Vidya? In welchem Verhältnis steht diese Philosophie zur Himalaya-Tradition?

Antworten von Pandit Rajmani Tigunait

Frage Agni-Magazin: In deinen Vorträgen und Büchern wird oft auf die Himalaya-Tradition und die Tradition von Sri Vidya verwiesen. Kannst du uns erklären, was diese Begriffe bedeuten und wofür sie stehen?

Pandit Rajmani Tigunait sagt dazu: Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als würde die Himalaya-Tradition zu einer bestimmten geografischen Region gehören, doch das ist nicht der Fall. Sie bezieht sich stattdessen auf einen erhabenen Bewusstseinszustand, der durch die höchsten Gipfel der Welt repräsentiert wird, und auf das reine, unverfälschte Wissen und die Erfahrung, die durch den immerwährenden Schnee des Himalaya vermittelt werden.

„Die Himalaya-Tradition umfasst einen weit gefassten Ansatz zur Spiritualität.“

Die Himalaya-Tradition umfasst einen breit gefächerten Ansatz für Spiritualität. Es ist eine Tradition von Weisen, die seit Jahrhunderten zwischen diesen Gipfeln und in den Ebenen Indiens umherwandern, ohne sich mit einer Kaste, einem Glauben, einer Rasse, einer Religion, einem Guru, einem Gott oder einer etablierten Institution zu identifizieren.

Genauer gesagt, ist die Himalaya-Tradition die Tradition von Sri Vidya. Sri bedeutet „höchst verheißungsvoll, schön, freudvoll“; vidya bedeutet „Wissen“. Sri Vidya ist das schönste und verheißungsvollste Wissen. Es ermöglicht uns, die schönste und verheißungsvollste Wirklichkeit in uns zu erfahren. Praktisch gesprochen ist es der Weg des Yoga Sadhana, auf dem wir unsere essentielle Natur entdecken und im Licht dieser reinen Realität eine Brücke zwischen dem, was in uns und außerhalb von uns ist, schlagen. Es ist ein Weg, der dazu führt, die höchste Erfüllung und Freiheit zu finden, während wir in dieser Welt leben.

Sri Vidya basiert auf einer Philosophie, die besagt, dass unser Körper, unser Geist, unsere Sinne und das Universum nach genau demselben Muster aufgebaut sind: Alles, was im Universum existiert, existiert in unserem Körper, und alles, was in unserem Körper existiert, existiert im Universum. Sri Vidya geht außerdem davon aus, dass wir ein integraler Bestandteil dieses unendlich großen Lebensnetzes sind. In diesem riesigen Gewebe sind wir absolut eins mit dem Universum. Wir wachsen aus dem Universum heraus, so wie ein Fötus aus einer Zygote wächst. Wie ein Wandteppich werden wir immer komplexer, je weiter wir ihn weben. Die immerwährende und alles durchdringende Intelligenz fügt dem Wandteppich des Lebens, der wir sind, ständig mehr und mehr Schönheit hinzu.

Wir werden als winziges Baby geboren; wir werden zu Jugendlichen, dann zu Erwachsenen; wir wachsen heran, um ein Arzt, ein Zimmermann, ein Philosoph, eine Mutter, ein Großvater zu werden; und dann werden wir eines Tages alt und sterben. Der Tod bringt eine neue Dimension in unser Wachstum, die es uns ermöglicht, Teil eines viel größeren Universums zu werden. Der Gedanke, dass der Tod zu einem erweiterten Bewusstsein führt, mag zu viel des Guten sein, aber es ist wichtig zu wissen, dass wir in der Tradition von Sri Vidya anerkennen, dass wir alle ein Teil eines gigantischen Wandteppichs sind, der sich ständig erweitert.

Nach der Tradition von Sri Vidya befinden wir uns auf einer kontinuierlichen, unaufhaltsamen Reise. Die Kräfte von Zeit und Raum und die Kräfte, die das Gesetz von Ursache und Wirkung lenken und bestimmen, haben keine Macht, unsere kontinuierliche Reise zu unterbrechen. Wir sind Kinder der Unsterblichkeit – der Samen in uns ist unvergänglich und unzerstörbar. Die Tradition hat Techniken entdeckt, die uns helfen, eine direkte Erfahrung dieser Wahrheit zu machen. Diese Erfahrung nimmt uns jede Form von Angst – wenn wir wissen, dass es keine Kraft gibt, die uns schaden kann, verschwindet die Angst für immer.

„Jeder von uns hat das Potenzial, seine perfekte Güte, seine perfekte Schönheit und seine perfekte Freude zu erfahren.“

Unsere Tradition hat eine praktische, geradlinige Sichtweise. Wenn die gesamte Existenz wie ein Ozean ist, ist jeder von uns eine Welle, die diesem Ozean entspringt. Der Ozean des Lebens ist schön; wir sind eine Welle dieser Schönheit. Der Ozean ist freudig; wir sind eine Welle dieser Freude. Der Ozean ist ewig; wir sind eine Welle dieser Ewigkeit.

Jeder von uns hat das Potenzial, unsere perfekte Güte, perfekte Schönheit und perfekte Freude zu erfahren. Wir alle haben die Fähigkeit und das Privileg, die Ewigkeit, die unsere Essenz ist, zu finden und zu erleben. Die Werkzeuge und Mittel, um diese ewige Freude und Schönheit zu erfahren, befinden sich genau hier in diesem menschlichen Körper. Wenn wir die bewährten Techniken anwenden, die von der Tradition vermittelt werden, können wir dieses Potenzial erwecken und die gleiche Ebene der Erkenntnis erreichen, die große Seelen in der Vergangenheit erfahren haben. Das ist die Himalaya-Tradition, die Tradition von Sri Vidya.

Dieser Artikel erschien im Original auf HI Online des Himalayan Institute, USA. Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

Pandit Rajmani Tigunait

Pandit Tigunait, der spirituelle Leiter des Himalayan Institutes (USA), ist der Nachfolger von Swami Rama aus dem Himalaya. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert lehrt und unterrichtet er weltweit und ist Autor von mehr als 15 Büchern, darunter seine kürzlich erschienenen "The Secret of the Yoga Sutra" ("Das Geheimnis des Yoga Sutra" im Frühjahr 2019 auf deutsch bei Angi Verlag) "The Practice of the Yoga Sutra" und seine Autobiographie "Touched by Fire: The Ongoing Journey of a Spiritual Seeker". Pandit Tigunait hat zwei Doktortitel: einen in Sanskrit von der University of Allahabad in Indien und einen in Oriental Studies von der University of Pennsylvania in USA. Die Familientradition gab Pandit Tigunait Zugang zu einer großen Bandbreite spiritueller Weisheit, die sowohl in den schriftlichen als auch in den mündlichen Traditionen bewahrt wurde. Bevor er seinen Meister traf, studierte Pandit Tigunait Sanskrit, die Sprache der alten Schriften Indiens, sowie die Sprachen der buddhistischen, Jaina und zoroastrischen Traditionen. 1976 ordinierte Swami Rama Pandit Tigunait in die 5.000 Jahre alte Linie der Himalaya-Meister.

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