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Lesedauer 6 Minuten

Antworten von Pandit Rajmani Tigunait

Frage: Wenn Meditation erfordert, dass wir nichts denken, warum müssen wir uns dann an unser Mantra erinnern?

Pandit Rajmani Tigunait : Es gibt einen Grund, warum man sich an sein Mantra erinnern muss. Wir benutzen Mantra als Vehikel, um diesen Zustand des Nicht-Denkens in der Meditation zu erreichen. Solange man einen Verstand hat, muss man nachdenken. Das ist eine grundlegende, fundamentale Eigenschaft von Geist – tatsächlich ist die Natur des Geistes Spanda (Pulsieren), mit vollem Bewusstsein, dass er sich bewegt. Wenn es eine energetische Bewegung ist, dann in Form von Prana. Wenn es Bewegung im Sinne von Gedanken ist, dann wird es Geist genannt. Prana als Vehikel zum Verständnis der Bewegung von Gedanken wird „Geist“ genannt, und das Vehikel zur Wahrnehmung von Bewegung in Form seiner energetischen Dimension wird ebenfalls „Geist“ genannt. Geist ist Prana, und Prana ist Geist – beide sind genau dasselbe. Wenn der Geist aktiv ist, dann ist auch Prana aktiv. Wenn der eine gestört ist, ist auch er andere Teil gestört. Wenn der eine ruhig und gelassen ist, ist der andere Teil ruhig und gelassen. Dies ist ein unvermeidliches Naturgesetz.

Den Geist beruhigen

Was man also in der Meditation zu tun versucht, ist einen Weg zu finden, seinen Geist zu beruhigen oder sich zu konzentrieren und sein pranisches Feld zu energetisieren. Mantra ist ein Fahrzeug. Aber nicht jedes Mantra funktioniert so. Viele der Mantras, von denen du vielleicht gehört oder gelesen hast, sind nicht unbedingt dazu da, deinen Geist zu beruhigen. In der Tat, nichts könnte ein besseres Vehikel sein, um den Geist zu beruhigen und zu meistern, als der Atem. Du könntest Zehntausende von Mantras auf der einen Seite haben, und dein Atem auf der anderen Seite – dein eigener Atem wird mehr Kraft haben, deinen Geist zu beherrschen, als all diese Zehntausende von Mantras zusammen. Und doch können wir unseren Atem nicht immer so leicht kontrollieren. Prana und Geist sind so miteinander verflochten, dass die Störung im anderen automatisch viele andere Störungen in den Vordergrund rückt.

Körperliche Aspekte

Eine gestörte Ökologie von Körper, Geist und Sinnen führt zu Krankheiten, hormonellen Ungleichgewichten und Zittern im Nervensystem. Manchmal manifestiert sich diese Störung äußerlich als zitternde Glieder. Aber nicht selten kann man auch nur die geringste Störung auf zellulärer Ebene beobachten. Genau darum geht es beim Blutdruck. In jedem Moment reguliert unser Herz den Blutdruck, und unser Blutdruck ändert sich ständig. Wenn man seinen Blutdruck jetzt und dann ein paar Minuten später misst, erhält man zwei verschiedene Werte. Unsere Herzfrequenzvariabilität reagiert auch kontinuierlich auf die geringste Veränderung der geistigen und körperlichen Verfassung – Schmerzen, Aufregung oder sogar Niesen. Wenn man ein Rückenproblem hat und in eine Richtung sitzt, gibt es keine Schmerzen. Aber sobald man sich leicht dreht, werden die neuromuskulären Verbindungen vom Gehirn abgefeuert und man registriert den Schmerz. So raffiniert sind unsere Körper. Weil unser Herz und unser Atem auf die kleinste Veränderung im Körper reagieren, gibt es eine ständige Veränderung im Schwingungsmuster unserer Energie, unserer pranischen Kraft.

Wir sehen das auch bei psychischen Störungen. Wenn man sich zur Meditation hinsetzt und plötzlich merkt, dass man sein Ticket für den morgigen Flug wechseln muss, entsteht ein leichtes Zittern, auch wenn man nicht körperlich zittert. Zu diesem Zeitpunkt kann man nicht meditieren. Man braucht einen klaren, ruhigen und relativ nach innen gekehrten Geist, um sein Mantra zu praktizieren. Am Anfang, egal wie viel Mantra du praktizierst, wirst du kein großer Yogi werden, wenn du deinen Geist nicht beruhigen und nach innen wenden kannst. Und ein fortgeschrittener Yogi braucht kein Mantra, um Meditation zu praktizieren.

Was die Yoga Sutras sagen

Warum praktizieren wir dann ein Mantra? Mantra ist ein wunderbarer lebendiger Körper göttlicher Gnade, der uns hilft, uns mit der höheren Göttlichkeit in uns zu verbinden und verbunden zu bleiben. Sie lässt diese lenkende Gnade herabsteigen. Unabhängig davon, ob man bereit ist, diese Gnade zu empfangen oder nicht, wirkt das Mantra für einen, damit man diese Gnade empfangen und aufnehmen kann, und dadurch wird man besser vorbereitet, seine Meditation zu praktizieren. Das Geheimnis des Yoga-Sutras (Kapitel 1 Sutras 23 bis 29) erklärt, dass die Funktion des Mantra darin besteht, deinen Geist und dein Herz mit dem göttlichen Bewusstsein von Gott oder Ishvara zu durchdringen. Wenn wir mit dieser Göttlichkeit verbunden sind, wird der Würgegriff der Hindernisse (sowohl geistig als auch weltlich) immer schwächer. Je weniger Hindernisse wir begegnen, desto weniger Leiden haben wir. Und je weniger Leiden wir haben, desto gesünder werden wir und desto effektiver wird unsere Praxis sein. Wenn man in einen Tempel, eine Kirche oder eine Moschee mit einem reinen, klaren und ruhigen Geist geht, wird man eine Erfahrung machen. Wenn man mit gestörtem Verstand dorthin geht, hat man eine andere Erfahrung. Das ist es also, was das Mantra tut: es reinigt deinen Geist, damit wir mehr darauf vorbereitet sind, göttliche Gnade zu empfangen.

Die Tendenz zur „Neuigkeit“

Manchmal sind wir nachlässig und langweilen uns mit unserem Mantra. Man bekommt ein ausgezeichnetes Mantra, und sechs Monate später will man ein neues. Doch das ist oft genau das Mantra, das man braucht. Ein erfahrener Lehrer weiß genau, dass man dieses spezielle Mantra sechs Monate, ein Jahr, fünf Jahre, zwanzig Jahre, ein Leben, viele Leben lang praktizieren sollte – egal wie lange es dauert. Einige Mantras (sogar viele der Mantras, die von der Tradition als das allererste Mantras gegeben werden) haben eine spezifische Funktion Willenskraft und Entschlossenheit zu kultivieren, innerer Verbindung und göttlichem Schutz. Sie haben vielleicht keinen großen direkten Einfluss auf die eigene Meditation, aber der indirekte Einfluss auf die Meditation ist enorm.

Aber man möchte dieses Mantra, dessen Natur es ist, Stabilität und Bodenständigkeit in einem zu schaffen, gegen ein neues austauschen. Das ist es, was mit denen geschieht, deren Tendenz aus welchem karmischen Grund auch immer darin besteht, das zu beseitigen, was für sie am vorteilhaftesten ist. Wenn man jedoch ein aufrichtiger und wachsamer Sucher ist, beschwört man seine Willenskraft und Entschlossenheit – und hält sich an seine Praxis und überwindet schließlich diese unerwünschten Tendenzen. Das ist, wenn die Gnade wirklich anbricht und wir große Meditierende, große Yogis, große Seelen werden. Deshalb ist Mantra so wichtig.

 

Quelle: Frage-und-Antwort-Sitzung mit Pandit Rajmani Tigunait während eines Retreats in Khajuraho, Indien, 2017.

Dieser Artikel erschien zuerst im Amrit Blog in der Wisdom Library des Himalayan Institute, USADeutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

 

Pandit Rajmani Tigunait
Pandit Rajmani Tigunait

Pandit Tigunait, der spirituelle Leiter des Himalayan Institutes (USA), ist der Nachfolger von Swami Rama aus dem Himalaya. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert lehrt und unterrichtet er weltweit und ist Autor von mehr als 15 Büchern, darunter seine kürzlich erschienenen "The Secret of the Yoga Sutra" ("Das Geheimnis des Yoga Sutra" im Frühjahr 2019 auf deutsch bei Angi Verlag) "The Practice of the Yoga Sutra" und seine Autobiographie "Touched by Fire: The Ongoing Journey of a Spiritual Seeker". Pandit Tigunait hat zwei Doktortitel: einen in Sanskrit von der University of Allahabad in Indien und einen in Oriental Studies von der University of Pennsylvania in USA. Die Familientradition gab Pandit Tigunait Zugang zu einer großen Bandbreite spiritueller Weisheit, die sowohl in den schriftlichen als auch in den mündlichen Traditionen bewahrt wurde. Bevor er seinen Meister traf, studierte Pandit Tigunait Sanskrit, die Sprache der alten Schriften Indiens, sowie die Sprachen der buddhistischen, Jaina und zoroastrischen Traditionen. 1976 ordinierte Swami Rama Pandit Tigunait in die 5.000 Jahre alte Linie der Himalaya-Meister.

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