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Lesedauer 6 Minuten

Von Michael Nickel

Langsam aber sicher macht sich das Herbstgefühl wieder breit. Die Tage werden schon deutlich kürzer, die Nächte kälter und die Luft ist klar und beginnt den Schein der Herbstsonne in ihrer charakteristischen Weise über uns auszuschütten. Das Herbstgefühl ruft in vielen von uns eine Art Wehmut hervor, das war wohl schon immer so und wurde von unzähligen Dichtern zum Ausdruck gebracht. Unter diesen Herbstgedichten ist mir seit langer Zeit eines von Rainer Maria Rilke ans Herz gewachsen:

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke
(Das Buch der Bilder)

So melancholisch das Gedicht zunächst klingen mag, so sehr betont Rilke in ihm doch auch die Fülle des Lebens, die im Herbst steckt. Nicht umsonst feiern viele Kulturen rund um die Welt ein Erntedankfest – die einen früher, die andern später, doch selbst dort wo die Jahreszeiten nicht so ausgeprägt sind wie in unseren Breiten und es vielleicht sogar mehrere Ernten im Jahr gibt, ist diese Idee und dieser Drang sich zu einem bestimmten Fest im Jahreslauf für die Fülle der Geschenke der Natur zu bedanken, fest verankert.

Auch wenn wir – wie Rilke in seiner zweiten Strophe – dieses drängende und allzu menschliche Verlangen haben, dass diese Fülle noch immenser sein möge, damit wir sie noch einmal voll auskosten können, es bleibt dass Bewusstsein, dass der lange, kalte Winter kommt.

Sich den Kräften des Universums vertrauensvoll hingeben

Doch noch ist es nicht soweit und ich möchte mich auch nicht in einer Gedichtsinterpretation zu einem meiner Lieblingsdichter verlieren, auch wenn es eine herrliche Doppeldeutigkeit in sich trägt, die den Jahreslauf allegorisch mit dem Lebenslauf von uns Menschen vergleicht. Darin klingt bei Rilke immer wieder eine Art Weltsicht, die an die östliche Spiritualität erinnern mag und sich den großen Kräften des Universums vertrauensvoll hingibt – wie dem Wind im Gedicht. Weiterlesen