Ein verblüffender Mystiker (Neem Karoli Baba)
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Von Swami Rama
Selbstlosigkeit ist eines der herausragenden Zeichen eines spirituellen Mannes. Wenn diese Qualität im Charakter eines Menschen fehlt, der angeblich eine spirituelle Person ist, dann ist er das nicht wirklich.
Es gab einen bekannten Meister, Neem Karoli Baba, der mir segensreich war, als ich noch ziemlich jung war. Er lebte in Nainital, einem der Berg-Resorts im Himalaya. Er war ein Mann, »der halb hier, halb dort lebte«. Wenn jemand zu ihm kam, pflegte er zu sagen: »Also, jetzt habe ich dich gesehen und du hast mich gesehen, ja ja ja, ja.«, was bedeutete »geh geh geh, geh!«. Das war seine Gewohnheit.
Einmal saßen wir zusammen und unterhielten uns, als einer der reichsten Männer Indiens ihn mit einem beachtlichen Bündel indischem Geld besuchte. Der Mann sagte: »Sir, das habe ich Ihnen mitgebracht.« Baba breitete die Geldscheine aus und setzte sich darauf. Er stellte fest: »Sie sind keine bequeme Unterlage, und ich habe keine Feuerstelle, um sie zu verbrennen, um Wärme zu erzeugen. Sie sind unnütz für mich. Was soll ich damit machen?« Der Mann erwiderte: »Sir, es ist Geld.« Baba gab ihm das Geld zurück und bat ihn, Obst davon zu kaufen. Der reiche Mann sagte: »Aber es gibt hier keinen Markt.« Baba bemerkte: »Wie kannst du dann sagen, es sei Geld? Wenn es doch keine Früchte kaufen kann, dann ist es kein Geld für mich.«
Schließlich fragte ihn Baba: »Was willst du von mir?« Der Mann sagte: »Ich habe Kopfweh.« Baba antwortete: »Das hast du selbst erzeugt. Was kann ich für dich tun?« Er protestierte: »Sir, ich bin gekommen, weil ich um Ihre Hilfe bitten möchte.« Baba wurde nachgiebig: »Gut, du wirst künftig kein Kopfweh mehr haben, aber du wirst anderen Kopfschmerzen bereiten. Du wirst so elendig reich sein, dass deine ganze Umgebung deswegen Kopfschmerzen hat.« Und so ist es tatsächlich der Fall, selbst heute noch. Es stimmt, dass eine gewisse Menge Geld notwendig ist, um komfortabel in der Welt zu leben. Aber es ist ebenso wahr, dass es eine Quelle des Kummers sein kann, wenn man mehr davon besitzt als nötig. Geld anzuhäufen ist eine Sünde, denn wir entziehen es anderen und schaffen ein Ungleichgewicht in der Gesellschaft.
Neem Karoli Baba liebte Lord Rama, eine Inkarnation Gottes, und murmelte immer ein Mantra, das niemand verstand. Dieser Weise wurde von vielen Leuten in Nordindien bewundert. Die Menschen ließen ihm keine Ruhe. Sie reisten mit ihm von einem Berg und Dorf zum anderen. Er war in einiger Hinsicht sehr geheimnisvoll. Ich hatte etliche wunderbare und komische Erlebnisse mit Neem Karoli Baba, die man kaum glauben kann. Doch ein paar Amerikaner, die ihm begegnet sind, werden verstehen, wovon ich spreche. Wenn ihn jemand besuchte, konnte es vorkommen, dass er sagte: »Du hast mit dieser oder jener Person unter einem bestimmten Baum schlecht über mich gesprochen.« Er vermochte das Datum und die Uhrzeit zu nennen. Anschließend sagte er: »Jetzt hast du mich gesehen, geh geh geh!« Dann bedeckte er sich vollständig mit einer Decke.
Einmal war ein Apotheker von Talital nach Malital unterwegs, um ein Mittel dorthin zu bringen. Er war ein Anhänger von Neem Karoli Baba und machte bei ihm Station. Ich war ebenfalls anwesend. Baba sagte: »Ich habe Hunger. Was trägst du da bei dir?« Der Apotheker erwiderte: »Das ist Arsen. Warte, ich bringe dir gleich etwas zu essen.« Aber Baba griff nach dem Beutel mit dem Pulver und aß eine Handvoll. Dann bat er um ein Glas Wasser. Der Apotheker dachte, er würde von dem Gift sterben, aber am Tag darauf darauf war er wohlauf.
Er war sich der äußeren Welt kaum mehr bewusst. Wenn man ihn fragte: »Hast du dein Mahl zu dir genommen?«, dann antwortete er »Nein« oder »Ja«, aber das hatte keine Bedeutung. Wenn der Geist anderswo ist, kann man mehrmals täglich essen und wird doch Hunger haben. Das sah ich an ihm. Fünf Minuten nach dem Mahl sagte er manchmal: »Ich habe Hunger«, weil er nicht wusste, dass er eben gegessen hatte. Ich antwortete: »Ihr hattet erst gerade Euer Essen.« Darauf erwiderte er: »Na gut, dann habe ich keinen Hunger.«
Wenn ich ihm nicht sagte »Ihr habt jetzt gegessen«, hörte er nicht auf zu essen. Eines Tages dachte ich mir: »Mal sehen, wie oft er essen kann.« An diesem Tag nahm er vierzig Mahlzeiten in verschiedenen Häusern zu sich. Er aß einfach den ganzen Tag. Wir wollten wissen, was er für Kräfte besäße und er wusste, was wir wollten. Wenn ihm also irgendjemand etwas zum Verzehr hinstellte, dann aß er. Sie fragten: »Möchtet Ihr essen?« Und er antwortete: »Okay.« Er aß den ganzen Tag lang. Schließlich wandte ich mich ihm zu und stellte fest: »Ihr habt genug gegessen.« Er erwiderte: »O, Hab ich das?« »Ja«, sagte ich.
In einem so hohen Bewusstseinszustand wird man wie ein Kind. Jemand wie er ist sich der weltlichen Objekte nicht vollständig gewahr, aber er ist sich allzeit der Wahrheit bewusst.
Buchauszug aus „Mein Leben mit den Meistern des Himalayas“ (Neuübersetzung, Agni Verlag 2018).
Übersetzt von Michael Nickel