Gegenpol zur Angst (Abhinivesha)

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Lesedauer 5 Minuten

Antworten von Pandit Rajmani Tigunait

Frage Agni-Magazin: Bietet Yoga ein Mittel gegen die Angst?

Pandit Rajmani Tigunait sagt dazu: Im Yoga Sutra (2:3) zählt Patanjali fünf Bedrängnisse auf: Avidya, Unwissenheit; Asmita, falsches Gefühl der Selbstidentität; Raga, Anhaftung; Dvesha, Abneigung; und Abhinivesha, Angst vor dem Tod. Im Sanskrit ist das gebräuchliche Wort für Angst Bhaya. Doch Patanjali hat das Wort Bhaya nicht verwendet. Stattdessen benutzte er das Wort Abhinivesha, und das aus gutem Grund. Es setzt sich aus drei Wörtern zusammen: abhi + ni + vesha – zwei Vorsilben, die dem Wort vesha hinzugefügt werden. Abhi bedeutet „von allen Seiten und aus allen Richtungen“. Ni bedeutet „vollständig, in jeder Hinsicht, in jeder möglichen Bedeutung“. Vesha bedeutet „eintreten“. Abhinivesha ist also etwas, das in alle Aspekte unseres Seins eindringt und sie durchdringt; es dringt aus jeder Richtung, auf jede Art und Weise, in jeder Hinsicht ein und durchdringt jeden noch so kleinen Winkel unseres Körpers und Geistes. Das ist die Natur der Angst. Wenn sie einmal da ist, breitet sie sich einfach aus. Es gibt keinen Virus in der Schöpfung, der so mächtig ist und sich so schnell ausbreitet wie die Angst.

Abhinivesha ist etwas, das in alle Aspekte unseres Seins eindringt und sie durchdringt.

Angst ist wie eine Atombombe, die gerade explodiert ist. Sie ist so schnell, erzeugt so viel Hitze und zieht so viel Sauerstoff in so kurzer Zeit an, dass sie sich sofort in einen gewaltigen Sturm aus allen Richtungen verwandelt – abhi. Es ist kein Sturm, wie wir ihn kennen, der sich von einer Seite zur anderen bewegt, ein Muster hat und schließlich abebbt. Dieser Sturm beginnt, das menschliche Bewusstsein von überall her aufzusaugen. Eine Person ist ängstlich. Die nächste Person wird auch ängstlich und dann wird die nächste Person ängstlich. Dann werden wir zu einer angstgetriebenen Gesellschaft.

Unzufriedenheit GEdankenfutter Michael Nickel - Foto:Andre Hunter Unsplash

Unsere Politik ist angstgetrieben. Unsere Religion ist angstgetrieben. Unsere Ideologien werden von Angst bestimmt. Alles wird von Angst bestimmt. Unser Denken, Reden und Handeln wird davon beeinflusst. Unsere Prioritäten ändern sich. Unser Körper verändert sich. Es ist nicht nur so, dass du ein Geschwür bekommst. Der Körper wird zittrig. Es fällt einem schwer, sich zu entspannen. Die Qualität unseres Yogas ist in dieser Zeit gestört. Auch der Umgang mit unseren Lieben verändert sich. So funktioniert die Angst. Deshalb nennt man sie auch Abhinivesha.

Letztlich sind alle Ängste mit der Angst verbunden, etwas zu verlieren, was einem lieb und teuer ist. Man hat zum Beispiel sehr hart für seine Karriere gearbeitet und nun hat man sie verloren. Wenn man seinen Job verliert und seine Rechnungen nicht bezahlen kann, dann verliert man auch sein Haus. Schon die Aussicht darauf, das Haus zu verlieren, ist schmerzhaft und beängstigend und macht uns Angst. Was wird dann aus uns und unserer Familie? Die Angst vor Verlust und der Schmerz, der durch den Verlust oder die Möglichkeit des Verlustes verursacht wird, gehen also Hand in Hand. Und das alles ist Teil von Abhinivesha.

 

Wie gehen wir also mit der Angst um?

Gehen wir zurück zu den fünf Bedrängnissen. Das erste, welches die subtilste und ursprünglichste Ursache aller anderen Bedrängnis ist, ist Avidya, Unwissenheit. Laut Yoga Sutra (2:4) ist Avidya unsere Unwilligkeit, alles außerhalb unserer Gewohnheitsmuster – unserer vertrauten Welt, unserer gewohnten Denkweise – zu erforschen und nur diese gewohnte Denkweise für die Wahrheit zu halten. Dies ist ein aktiver Prozess. Es ist nicht einfach der Mangel an Wissen über etwas. Mangel an Wissen ist passiv. Doch es gibt auch eine sehr aktive Art und Weise, sich ein Bild, ein Glaubenssystem, zu machen und daran festzuhalten, ohne bereit zu sein, andere Möglichkeiten als diese in Betracht zu ziehen.

Avidya führt zu Asmita, der falschen Selbstidentität – dem zweiten Bedrängnis. Diese falsche Identität ist etwas, das wir seit langem kultivieren, indem wir unsere Persönlichkeit, unser Image, immer weiter formen.

Dann kommt Raga, Anhaftung, und wo Raga ist, kommt Dvesha, Abneigung, Missfallen. Diese beiden Bedrängnisse sind wie zwei verschiedene Enden desselben Pols, von einem Teil des Spektrums zum anderen. Hier kommt die Angst zum Vorschein. Wir klammern uns an das, wovor wir Angst haben, es zu verlieren, oder wir laufen vor dem weg, was wir nicht haben wollen und wovor wir Angst haben, es zu besitzen. Es nimmt unseren Geist vollständig in Beschlag. Das wird zu unserer gesamten Realität.

Verfolge die Angst bis zu ihrem Ursprung zurück, indem du die Zwillingsgesetze von Sympathie und Abneigung, Anhaftung und Widerwillen betrachtest. Sie führen uns zurück zu unserem Asmita, unserem falschen Selbstverständnis. Wenn unser Asmita irgendwie in Frage gestellt wird, ist das erschreckend. Warum? Weil es seine Wurzeln tief in Avidya, der Unwissenheit, hat. Wenn wir verstehen, dass wir mehr sind als unser falsches Selbstverständnis, dass unsere wahre Identität unser höheres Selbst ist, jenseits von Vorlieben und Abneigungen, können wir Freiheit von Angst erlangen.

Wenn wir dies durch die Praktiken des Yoga tun, können wir unsere Erfahrung verändern – anstatt Angst zuzulassen, können wir einen höheren, erweiterten Sinn für die Realität erfahren. Meditation und der Fluss der göttlichen Gnade sind das Gegenmittel zu Abhinivesha.

Meditation, Weite, Himmel, Landschaft

 

Durch eine Kombination aus Meditation und Gnade dringt das göttliche Bewusstsein in uns ein, durchdringt uns und verwandelt uns in dieses höhere Bewusstsein. Wenn das geschieht, ist unser Geist nicht mehr eingeengt, nicht mehr beschränkt, kein Geist mehr, der fast keinen Platz für etwas anderes als unsere eigenen Gedankenkonstrukte, unsere eigenen Vorurteile und Sorgen, unsere Ängste und Befürchtungen hat. Jetzt wird er von göttlichem Bewusstsein erfüllt.

Um Abhinivesha zu überwinden, erlaube deinem Herzen, so groß wie das Universum zu sein.

Das göttliche Bewusstsein füllt dein Herz aus. In und zwischen jeder einzelnen Zelle des Körpers ist Platz, doch gleichzeitig gibt es einen Raum, der speziell dafür geschaffen ist, dem Bewusstsein, der Selbsterkenntnis, Raum zu geben. Dieser Raum ist das Herz. Es ist so einzigartig gestaltet, dass es schrumpfen oder sich bis zur absoluten Unendlichkeit ausdehnen kann.

Unser Herz kann so klein sein, dass es nicht einmal Platz hat, um eine Tasse Tee mit jemandem zu teilen, den wir lieben. Es schrumpft und wird von einem winzigen Missverständnis so gefüllt, dass es plötzlich keinen Platz mehr hat, um zu sagen: „Schatz, möchtest du eine Tasse Tee trinken?“ Doch unser Herz kann sich auch so ausdehnen, dass es groß genug ist, um das ganze Universum zu beherbergen. Auf der einen Seite ist es so klein und auf der anderen Seite hat es so viel Platz – Platz, der durch die Praxis und den Fluss der Gnade mit göttlichem Bewusstsein gefüllt wird. Um Abhinivesha zu überwinden, erlaube deinem Herzen, so groß wie das Universum zu sein.

 

Dieser Artikel erschien im Original auf HI Online des Himalayan Institute, USA.

Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

 

Pandit Rajmani Tigunait
Pandit Rajmani Tigunait

Pandit Tigunait, der spirituelle Leiter des Himalayan Institutes (USA), ist der Nachfolger von Swami Rama aus dem Himalaya. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert lehrt und unterrichtet er weltweit und ist Autor von mehr als 15 Büchern, darunter seine kürzlich erschienenen "The Secret of the Yoga Sutra" ("Das Geheimnis des Yoga Sutra" im Frühjahr 2019 auf deutsch bei Angi Verlag) "The Practice of the Yoga Sutra" und seine Autobiographie "Touched by Fire: The Ongoing Journey of a Spiritual Seeker". Pandit Tigunait hat zwei Doktortitel: einen in Sanskrit von der University of Allahabad in Indien und einen in Oriental Studies von der University of Pennsylvania in USA. Die Familientradition gab Pandit Tigunait Zugang zu einer großen Bandbreite spiritueller Weisheit, die sowohl in den schriftlichen als auch in den mündlichen Traditionen bewahrt wurde. Bevor er seinen Meister traf, studierte Pandit Tigunait Sanskrit, die Sprache der alten Schriften Indiens, sowie die Sprachen der buddhistischen, Jaina und zoroastrischen Traditionen. 1976 ordinierte Swami Rama Pandit Tigunait in die 5.000 Jahre alte Linie der Himalaya-Meister.

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