Die 24 Gurus von Dattatreya
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Von Pandit Rajmani Tigunait
Auszug aus seinem Buch „Die Weisheit der Meister des Himalayas„
Der König und das Geheimnis der vierundzwanzig Gurus
Eines Tages, als der große Weise Dattatreya noch ein Kind war, kam der König eines Nachbarlandes, um den Ashram zu besuchen, und weil seine Eltern weg waren, begrüßte der Junge den Gast im Palast. Als Dattatreya für das Wohlergehen des Besuchers sorgte, nahm der König eine innere Freude wahr, welche vom Gesicht des Jungen ausging. Und als er erkannte, dass dies ein spontaner Ausdruck der inneren Schönheit der Seele des Jungen war, war er sicher, dass Dattatreya mit großer Weisheit gesegnet war. Neugierig zu erfahren, wie jemand so jung und zugleich so weise sein kann, befragte der König den Jungen, und der folgende Dialog entfaltete sich.
König: »Ihr habt bei Euren Eltern gelernt?«
Dattatreya: »Es gibt viel zu lernen von allen und allem, nicht nur von meinen Eltern.«
König: »Dann habt Ihr einen Lehrer? Wer ist es?«
Dattatreya: »Ich habe vierundzwanzig Gurus [spirituelle Meister].«
König: »Vierundzwanzig Gurus in so einem zarten Alter? Wer sind diese?«
Das Beste geben – in Bewegung bleiben – ein Licht sein
Dattatreya: »Mutter Erde ist mein erster Guru. Sie lehrte mich, all jene, die mich zertrampeln, zerkratzen und verletzen, liebevoll in meinem Herzen zu halten, genau wie sie es tut. Sie lehrte mich, ihnen mein Bestes zu geben, und erinnerte mich daran, dass die Handlungen jener aus deren Sicht normal und natürlich sind.«
König: »Wer ist Euer zweiter Guru?«
Dattatreya: »Wasser. Seine Kraft enthält Leben und Reinheit. Es reinigt alles, was es berührt, und spendet jedem Leben, der es trinkt. Wasser fließt unaufhörlich. Wenn es aufhört, beginnt es zu stagnieren. ›In Bewegung bleiben, in Bewegung bleiben!‹, habe ich als Lektion vom Wasser gelernt.«
König: »Euer dritter Guru?«
Dattatreya: »Feuer. Es verbrennt alles und verwandelt es in eine Flamme. Durch den Verzehr von abgestorbenem Holz erzeugt es Wärme und Licht. So lerne ich, alles, was das Leben bringt, aufzunehmen und in die Flamme zu verwandeln, die mein Leben erhellt. In diesem Licht können andere sicher gehen.«
Andere erfrischen – Raum geben – Selbstbewusstsein wahren
König: »Wer ist euer vierter Guru, mein Herr?«
Dattatreya: »Der Wind ist mein vierter Guru. Der Wind bewegt sich unaufhörlich und berührt Blumen und Dornen gleichermaßen, aber er haftet nie den Objekten an, die er berührt. Wie der Wind lernte ich, weder Blumen den Dornen vorzuziehen, noch Freunde den Feinden. Wie der Wind, ist es mein Ziel, allen Menschen Frische zu bieten, ohne mich daran zu binden.«
König: »Der fünfte Guru, mein Herr?«
Dattatreya: »Alldurchdringender und allumfassender Raum ist mein fünfter Guru. Der Raum hat Platz für Sonne, Mond und Sterne, und doch bleibt er unberührt und unbegrenzt. Auch ich muss Raum für all die Vielfalt der Existenz haben und trotzdem von dem, was ich enthalte, unberührt bleiben. Alle sichtbaren und unsichtbaren Objekte haben ihren rechtmäßigen Platz in mir, aber sie haben keine Macht, mein Bewusstsein einzuschränken.«
König: »Wer ist Euer sechster Guru, mein Herr?«
Dattatreya: »Der Mond. Der Mond wächst und schwindet, und doch verliert er nie seine Essenz, Gesamtheit oder Form. Aus der Beobachtung des Mondes habe ich gelernt, dass Wachsen und Schwinden, Aufstehen und Fallen, Vergnügen und Schmerz, Verlust und Gewinn schlicht Lebensphasen sind. Während ich diese Phasen durchlaufe, verliere ich nie das Bewusstsein für mein wahres Selbst.«
Uneingeschränkt teilen – Bindungslosigkeit – Begehren
König: »Wer ist Euer siebter Guru?«
Dattatreya: »Die Sonne ist mein siebter Guru. Mit ihren hellen Strahlen zieht die Sonne aus allem Wasser, verwandelt es in Wolken und verteilt es dann ohne Bevorzugung als Regen. Regen fällt auf Wälder, Berge, Täler, Wüsten, Ozeane und Städte. Wie die Sonne habe ich gelernt, wie man Wissen aus allen Quellen sammelt, dieses Wissen in praktische Weisheit umwandelt und mit allen teilt, ohne einige Empfänger zu bevorzugen und andere auszuschließen.«
König: »Und Euer achter Guru?«
Dattatreya: »Mein achter Guru ist ein Taubenschwarm. Als sich eine Taube im Netz eines Jägers verfing und verzweifelt schrie, versuchten die anderen Tauben, sie zu retten, und verfingen sich ebenfalls! Von diesen Tauben habe ich gelernt, dass selbst eine positive Reaktion, wenn sie aus Bindung und Emotion entsteht, dazu führt uns zu verfangen und zu verheddern.«
König: »Euer neunter Guru, mein Herr?«
Dattatreya: »Mein neunter Guru ist die Python, die ihre Beute fängt und frisst – und dann für lange Zeit nicht mehr jagt. Sie hat mich gelehrt, dass ich, sobald mein Bedürfnis gestillt ist, zufrieden sein muss und mich nicht unglücklich machen darf, indem ich den Objekten meines Begehrens nachlaufe.«
Disziplin – Transformation – Bescheidenheit
König: »Wer ist Euer zehnter Guru?«
Dattatreya: »Der Ozean, der die Wohnstatt des Wassers ist. Er empfängt und nimmt Wasser aus allen Flüssen der Welt auf, und doch überschreitet er nie seine Grenzen. Der Ozean hat mich gelehrt, dass ich, egal welche Erfahrungen ich im Leben mache, egal wie viele Tritte und Schläge ich erhalte, meine Disziplin beibehalten muss.«
König: »Wer ist Euer elfter Guru, O weiser Mann?«
Dattatreya: »Die Motte ist mein elfter Guru. Vom Licht angezogen, fliegt sie aus ihrer Behausung, um sich in der Flamme zu opfern. Sie lehrte mich, dass ich, sobald ich die Morgendämmerung sehe, meine Angst überwinden muss, mit voller Geschwindigkeit aufsteigen und in die Flamme des Wissens eintauchen muss, um verzehrt und transformiert zu werden.«
König: »Der Zwölfte?«
Dattatreya: »Mein zwölfter Guru ist die Hummel, die nur die kleinsten Tropfen Nektar aus den Blüten nimmt. Und bevor sie auch nur so viel annimmt, summt und schwebt und tanzt sie und schafft eine Atmosphäre der Freude um die Blüte herum. Sie singt nicht nur das Lied der Fröhlichkeit, sie gibt den Blumen auch mehr, als sie brauchen: Sie bestäubt die Pflanzen und hilft ihnen, zu wachsen, indem sie von einer zur anderen fliegt. Ich lernte von der Hummel, dass ich nur ein wenig von der Natur nehmen sollte und dass ich dies fröhlich tun sollte, indem ich die Quelle, aus der ich Nahrung erhalte, bereichere.«
Wissen nutzen – Zurückhaltung – Wachsamkeit
König: »Euer dreizehnter Guru?«
Dattatreya: »Mein dreizehnter Guru ist die Honigbiene, die mehr Nektar sammelt, als sie braucht. Sie sammelt Nektar aus verschiedenen Quellen, schluckt diesen, verwandelt ihn in Honig und bringt ihn in den Bienenstock. Sie verbraucht nur ein wenig von dem, was sie sammelt, und teilt den Rest mit anderen. So sollte ich Weisheit von den Lehrern aller Disziplinen sammeln und das Wissen, das ich erhalte, verarbeiten. Ich muss das Wissen, das meinem eigenen Wachstum förderlich ist, anwenden, aber ich muss bereit sein, alles, was ich weiß, mit anderen zu teilen.«
König: »Der vierzehnte Guru, O weiser Sucher?«
Dattatreya: »Einmal habe ich gesehen, wie ein wilder Elefant gefangen wurde. Eine zahme, läufige Elefantendame war der Köder. Als der wilde Bulle ihre Anwesenheit spürte, kam er aus seinem Revier heraus und fiel in eine Grube, die geschickt mit Zweigen und Laubhaufen verdeckt worden war. Einmal gefangen, wurde der wilde Elefant gezähmt, um von anderen benutzt zu werden. Dieser Elefant ist mein vierzehnter Guru, weil er mich lehrte, mit meinen Leidenschaften und Wünschen vorsichtig zu sein. Weltliche Reize wecken unsere Sinnesimpulse, und während der Jagd nach dem Sinnesreiz wird der Geist gefangen und versklavt, obwohl er mächtig ist.«
König: »Wer ist Euer fünfzehnter Guru, mein Herr?«
Dattatreya: »Der Hirsch, mit seinem ausgeprägten Gehör. Er hört aufmerksam zu und achtet auf alle Geräusche – aber er wird durch die Melodie der Flöte des Hirschjägers in seinen Untergang gelockt. Wie der Hirsch halten wir unsere Ohren wach für jede Menge Nachrichten, Gerüchte und Klatsch und sind skeptisch gegenüber vielem, was wir hören. Was ich von den Hirschen gelernt habe, ist, dass wir von bestimmten Worten verzaubert werden, die wir – aufgrund unserer Wünsche, Bindungen, Begierden und Vasanas [subtile Eindrücke aus der Vergangenheit] – gerne hören. Diese Tendenz erzeugt Elend für uns selbst und andere.«
Freiheit – wahre Befriedigung – Entsagung
König: »Und wer ist Euer sechzehnter Guru?«
Dattatreya: »Der Fisch, der einen Köderhaken schluckt und vom Fischer gefangen wird. Diese Welt ist wie ein Köder. Solange ich mich an den Fisch erinnere, bleibe ich frei vom Haken.«
König: »Wer ist Euer siebzehnter Guru?«
Dattatreya: »Eine Prostituierte. Sie weiß, dass sie ihre Kunden nicht liebt, noch lieben jene sie. Sie wartet auf sie, und wenn sie kommen, spielt sie das Drama der Liebe, aber sie ist nicht zufrieden, weder mit der unechten Liebe, die sie gibt und empfängt, noch mit der Bezahlung, die ihr gegeben wird. Durch sie wurde mir klar, dass alle Menschen wie Prostituierte sind, und die Welt, wie die Kunden, vergnügt sich an uns. Die Zahlung ist immer unzureichend und wir fühlen uns unzufrieden. So beschloss ich, nicht in diesem Zustand zu leben. Stattdessen werde ich mit Würde und Selbstachtung leben. Ich werde nicht erwarten, dass mir diese Welt materielle oder innere Zufriedenheit bringt. Ich werde selbst Befriedigung finden, indem ich nach innen gehe.«
König: »Wer ist Euer achtzehnter Guru?«
Dattatreya: »Der kleine Vogel mit einen Wurm im Schnabel. Größere Vögel flogen hinter ihm her und begannen, ihn zu picken. Sie hörten erst auf, als der kleine Vogel den Wurm fallen ließ. So lernte ich, dass das Geheimnis des Überlebens in Entsagung liegt, nicht im Besitz.«
Bedürfnisse – innerer Frieden – Ruheplätze finden
König: »Wer ist euer neunzehnter Guru, mein Herr?«
Dattatreya: »Mein neunzehnter Guru ist der Säugling, welcher weint, wenn er Hunger hat, und aufhört, wenn er an der Brust seiner Mutter saugt. Wenn das Baby satt ist, hört es auf zu saugen, und nichts, was seine Mutter tut, kann es dazu bringen, mehr Milch zu trinken. Ich habe von diesem Baby gelernt, nur das zu verlangen, was ich wirklich brauche. Wenn es mir zur Verfügung gestellt wird, darf ich nur das nehmen, was ich brauche und muss dann mein Gesicht abwenden.«
König: »Und Euer zwanzigster Guru?«
Dattatreya: »Eine junge Frau, die ich traf, als ich um Almosen bettelte. Sie sagte mir, ich solle warten, während sie eine Mahlzeit zubereitet. Ihre Armbänder klirrten, als sie kochte, also entfernte sie eines. Aber das Geräusch ging weiter, also nahm sie sie alle einzeln ab, bis nur noch einer übrig blieb. Dann herrschte Stille. So lernte ich, dass es überall dort, wo es eine Menge gibt, Lärm, Meinungsverschiedenheiten und Dissens gibt. Frieden kann nur in der Einsamkeit erwartet werden.«
König: »Und Euer einundzwanzigster Guru?«
Dattatreya: »Eine Schlange, die kein Loch für sich selbst macht, sondern sich in Löchern ausruht, die andere Kreaturen verlassen haben, oder sich für eine Weile in der Mulde eines Baumes zusammenrollt und dann weitermacht. Von dieser Schlange lernte ich, mich an meine Umgebung anzupassen und die Ressourcen der Natur zu genießen, ohne mich mit einem festen Zuhause zu belasten. Kreaturen in der Natur bewegen sich ständig und verlassen ständig ihre früheren Behausungen. Deshalb finde ich, während ich im Strom der Natur treibe, viele Ruheplätze. Sobald ich ausgeruht bin, mache ich weiter.«
Absorption – Einfachheit im Handeln – die Kunst des Zuhörens
König: »Und Euer zweiundzwanzigster Guru?«
Dattatreya: »Mein zweiundzwanzigster Guru ist der Pfeilmacher, der so sehr in die Herstellung seiner Pfeilspitzen vertieft war, dass ein König und seine gesamte Armee in der Nähe vorbeikamen, ohne seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So lernte ich, in die anstehende Aufgabe absorbiert zu sein, egal wie groß oder klein sie sein mag. Je einpünktiger mein Fokus, desto größer meine Absorption. Je größer meine Absorption, desto subtiler mein Bewusstsein. Das Ziel ist subtil – es kann nur durch subtiles Bewusstsein erfasst werden.«
König: »Euer dreiundzwanzigster Guru?«
Dattatreya: »Mein dreiundzwanzigster Guru ist die kleine Spinne, die sich ein schönes, behagliches Netz gebaut hat. Als eine größere Spinne sie jagte, eilte sie, um Zuflucht in ihrem Netz zu suchen. Aber sie lief so schnell, dass sie sich verfangen hat und von der größeren Spinne gefressen wurde. So lernte ich, dass wir Netze für uns selbst erschaffen, indem wir versuchen, einen sicheren Hafen zu bauen, und während wir durch die Fäden dieser Netze rasen, verfangen wir uns und werden konsumiert. In den komplizierten Geflechten unseres Handelns ist keine Sicherheit zu finden.«
König: »Und wer ist Euer vierundzwanzigster Guru?«
Dattatreya: »Mein vierundzwanzigster Guru ist der Wurm, der von einem Singvogel gefangen und in sein Nest gesetzt wurde. Als der Vogel zu singen begann, wurde der Wurm so sehr von dem Lied in den Bann gezogen, dass er sein Bewusstsein für die Gefahr verlor. Als ich sah, wie dieses kleine Wesen angesichts des Todes in ein Lied vertieft wurde, erinnerte mich das daran, dass auch ich die Kunst des Zuhörens entwickeln muss. Dann kann ich in den ewigen Klang – Nada – welcher immer in mir ist, vertieft werden.«
Als er Dattatreya zuhörte, erkannte der König, dass die Weisheit dieses jungen Meisters auf dessen eigene Entschlossenheit zurückzuführen war, das Ziel des Lebens fest im eigenen Bewusstsein zu verankern. Wie auch von der eigenen Fähigkeit, die Lektionen des Lebens überall zu entdecken, wo immer man sich auch hinwendet.
Buchauszug aus „Die Weisheit der Meister des Himalayas – Die Philosophie des Yoga in Geschichten für ein erfülltes und glückliches Leben“ (Deutsche Erstausgabe 2019, Agni Verlag) Das Buch ist erhältlich im Agni Verlag Webshop, in unserem Verlagsshop auf Amazon (inkl. Blick-ins-Buch) und im örtlichen Buchhandel.
Übersetzt von Michael Nickel.