Man sieht nur mit dem Herzen gut – doch dazu muss das Herz heil sein und der Geist still
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Von Michael Nickel
Das Herz spielt in sehr vielen, wenn nicht allen spirituellen Traditionen der Welt eine Rolle. Universell wird es als Sitz unserer Seele, unseres persönlichen Kerns gesehen. Das drückt sich schon in der Geste aus, die wir nutzen, wenn wir klarmachen wollen, dass es um uns selbst geht: Wir richten intuitiv den Zeigefinger zu unserer Brustmitte – zu unsrem Herzen. Welchen Status das Herz als Sitz unseres Wesenskerns in den östlichen Traditionen hat, habe ich vor einiger Zeit im Gedankenfutter „Herzenssache Ganesha“ zum Ausdruck gebracht. Doch auch im Westen wird dem Herzen – und damit der angeborenen Weisheit unserer Intuition – eine dem Geist übergeordnete Stellung zugeordnet. Wenngleich es dazu unzählige Aussprüche und Zitate gibt, ist eines der berühmtesten jenes von Antoine de Saint-Exupéry aus seinem herrlichen Werk „Der kleine Prinz“:
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupéry
in: „Der Kleine Prinz“
„Die Augen“ stehen hier sinnbildlich für die intellektuelle Verarbeitung unserer Sinneseindrücke aus der Außenwelt – und damit für unseren Intellekt als Ganzes, unseren Geist. Vielleicht hat dieses Zitat zur Popularität von Herz-zentrierten Meditationen bei uns im Westen beigetragen. Es existieren eine Menge davon – klassische ebenso, wie „neu erfundene“. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie zur Wahrnehmung des Wesentlichen führen, wie Saint-Exupéry es ausdrückt. Doch man könnte in diesem Zusammenhang auch sagen: „Das Herz hat seine Tücken“ – oder viel mehr
Der Grund ist ziemlich schnell gefunden. Das Herz trägt oftmals eine Vielzahl an emotionalen Verletzungen in sich und zugleich mag der Geist gerne alles andere sein als still. Schon einer der beiden Zustände – verletztes Herz oder unruhiger Geist – macht es uns extrem schwer überhaupt zu meditieren, geschweige denn auf’s oder im Herzzentrum. Als Yoga– und Meditationslehrer leite ich auch immer wieder Herz-zentrierte Übungen und Praktiken an – und erlebe dann die Reaktion der Teilnehmer*innen direkt – oder höre in Zeiten von online-Stunden hinterher davon. Was mir dabei über die Jahre klar geworden ist: es gibt zwei grobe Kategorien von Herz-zentrierten Meditationspraktiken, wenn man die Wirkung zugrunde legt.
Herzkohärenz-Techniken sind oft wohltuend
Zum einen sind da die eher allgemeinen und sehr einfach gehaltenen Praktiken, zu denen ich beispielsweise alle Herzkohärenz-Übungen zählen würde. Sie sind oberflächlicher mit positiver Wahrnehmung des Herzens verbunden und arbeiten im Falle der Herzkohärenz auch wirklich mit der Physiologie des autonomen Nervensystems im Bezug auf das Herzen. Durch die Bank werden diese Techniken als wohltuend wahrgenommen und führen die meisten Menschen entweder in ein emotionales Gefühl von „Leichtigkeit“. Diese Art von Herz-zentrierten Techniken kann man meiner Erfahrung nach ohne Bedenken in einem extrem weiten Kontext menschlicher „Daseins-Zustände“ anleiten und selbst praktizieren.
Die zweite Kategorie sind die wirklich spezifischen Herz-Meditationen – oft mit tiefem In-sich-Spüren oder gar Visualisierungen mit Herzbezug verbundenen. Allzu oft habe ich erlebt, wie sich hier die Reaktionen und auch die Meinungen teilen. Manche erlangen eine ähnliche Leichtigkeit und ein Gefühl des „mit sich selbst im Reinen Seins“ wie in der ersten Kategorie. Doch ein relativ großer Anteil von Menschen reagiert auf diese Art von Meditation sehr emotional. Teilweise so emotional, dass es schwer kontrollierbar ist und lange Zeit nachwirkt. Der Grund dafür liegt darin, dass solche tiefen Herz-Meditationen zum Einen unsere emotionalen Verletzungen aus dem Unterbewusstsein nach oben ins Bewusstsein spülen können. Zum Anderen werden durch diese Art der Übung oft mentale Aktivitäten getriggert, die scheinbar ohne ersichtlichen Grund zu starken emotionalen Reaktionen führen, was vielleicht nur eine tiefer-sitzende Variante der ersten Reaktion darstellt. Dementsprechend teilt sich hier die Meinung zu solchen Meditationen. Die einen lieben sie, die anderen hassen oder fürchten sie gar. Für mich als Meditationslehrer habe ich zu dieser Art von Praktiken inzwischen ganz klar ein „Achtung-Schild“ im Kopf. Ich leite sie nur noch dann an, wenn ich die Teilnehmer*innen relativ gut kenne und ein geschützter Rahmen vorhanden ist – was online beispielsweise oft nicht der Fall ist, zumindest in offenen Stunden.
Ursachen für Herausforderungen bei Herz-Meditationen
Woher kommt diese tiefe Wirkung von Herz-Meditationen? Hier kommen wir zu Saint-Exupéry zurück: „Wir sehen mit dem Herzen gut“. Er hat recht! – Allerdings sehen wir zunächst einmal das, was nahe liegt. Und was liegt näher als unsere Gedanken, unsere eigenen Erinnerungen, emotionalen Verletzungen und mentalen Trigger? – Vielleicht sollten wir also unsere dementsprechende Kapazität der Verarbeitung respektieren und systematisch vorgehen. Doch gerade an letzterem harpert es oft. Dabei zeigen uns klassische Schriften und alte Traditionen den Weg ins Herzen.
In der tantrischen Tradition des Sri Vidya etwa führt der energetische und meditative Weg ins Herzen darüber, ein Bewusstsein für seine eigene Lebensenergie zu entwickeln, mit Hilfe dieser „Verbindung“ – auch bekannt unter dem Wort „Yoga“ – dann den Geist zur Stille zu verführen, bis zur höchsten Stille – Samadhi – aufzusteigen und erst dann ins Herzen einzutauchen und dort in sich zu ruhen. – Hört sich das nach einem anspruchsvollen Weg an, der viel Disziplin und liebevolles Üben erfordert? – O ja!
Der tantrische und yogische Weg ins Herzen: Schritt für Schritt
Letztlich liegt diesem Prozess das Yoga Sutra zugrunde. Rollen wir es Rückwärts auf – also vom Herzen her gesehen. Dazu sagt das Yoga Sutra:
Yoga Sutra 3.34 (in manchen Yoga-Sutra-Traditionen 3.35)
Nach der englischen Übersetzung von Pandit Rajmani Tigunait.
Samyama ist hierbei das integrierte Praktizieren von Dharana, Dhyana und Samadhi – also die schrittweise völlige Versenkung ins Herzen durch Konzentration, Meditation und Transzendenz. Ein komplexer Prozess, der Übung erfordert. Nicht umsonst steht dies im dritten Kapitel des Yoga Sutra und nicht im ersten. Denn die beiden ersten Kapitel oder Bücher erklären zunächst einmal, was der transzendente Zustand von Samadhi eigentlich ist und wie wir dorthin gelangen.
Das Yoga Sutra bringt andererseits klar zum Ausdruck, dass wir alleine schon für Dharana und Dhyana zunächst einmal einen klaren, stillen Geist benötigen, denn wie es im zweiten Kapitel ausgedrückt wird:
Yoga Sutra 2.20
aus Pandit Rajmani Tigunait „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“(Erscheint im Laufe von 2021).
Damit der Seher oder das Sehende in uns also mit dem Herzen sehen kann, muss zunächst mal der Geist als „Interface“ zwischen so kristallklar und transparent werden, dass er das Sehen des Sehenden nicht einfärbt, eintrübt oder gar völlig verzerrt, wenn wir die Wahrnehmung ins Herzen richten oder durch unser Herzen nach außen. Doch genau diese Eintrübung, Verschleierung und Verzerrung finden wir „normalerweise“ in unserem Geist. Der natütrliche „Normalzustand“ ist es zwar nicht, aber leider der Zustand, den unser Geist in der Regel annimmt, wenn wir unbewusst leben. Darum spricht das Yoga Sutra davon, dass wir andauernd und mit Wertschätzung üben müssen (siehe Yoga Sutra 1.14), um den natürlichen, ungetrübten, strahlend-klaren Zustand des Geistes zu erreichen, jenseits aller Wahrnehmung von Leid – in welcher Form auch immer dieses Leid sich ausdrücken mag. Diesen Zustand – unser eigentlicher „Normalzustand“ – jenseits davon definiert das Yoga Sutra so:
Yoga Sutra 1.36
aus Pandit Rajmani Tigunait „Das Geheimnis des Yoga Sutra – Samadhi Pada“ (Deutsche Erstausgabe 2019).
Landkarte und Gebrauchsanweisung für den Weg ins Herz
Das Yoga Sutra liefert uns also gewissermaßen die Gebrauchsanweisung für unseren Geist, wenn wir die Kraft dessen erleben wollen, was im Zitat aus „Der Kleinen Prinz“ schlummert: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Und das geht zusammengefasst so:
Hier kommen wir dann auch zum Aspekt der Heilung. Denn aus dieser Seher-Perspektive aus der Essenz unseres Herzens heraus „sehen“ wir auch, wo unsere emotionalen Verletzungen liegen – das was wir landläufig als „gebrochenes Herz“ bezeichnen. Dabei geht es – wohlgemerkt! – nicht nur um Liebeskummer. Man denke nur einmal daran, wie oft und in welchem Kontext wir etwas sagen wie
Die emotionalen Verletzungen loslassen lernen – durch beständiges üben mentaler Stille
Diese emotionalen Verletzungen aus dem Herzen Heraus mit einem stillen, klaren Geist zu sehen, ist etwas, dass uns das Loslassen erlaubt – Vairagya in der Terminologie des Yoga Sutra. Und genau dieses Loslassen heilt die emotionalen Verletzungen in uns. Im Idealfall geschieht dies in einem Zustand von Samadhi, dann nehmen wir diesen Prozess vielleicht gar nicht mehr wahr – denn er erzeugt dann keine neue Erinnerung, während er abläuft. Doch der Prozess geschieht auch schon früher – wenngleich wir dann mit einem weniger klaren und daher reaktiveren Geist in dieses Sehen einsteigen. Das ist es, was wir in manchen Herze-Meditationen als eine große emotionale Herausforderung finden. Manchmal oder sogar oft ist sie zu groß. Daher ist der erste Schritt zur Heilung des Herzens oder vielmehr der emotionelen Verletzungen, die im mentalen und energetischen Feld liegen – nicht jedoch im Seher in der Essenz des Herzens, denn dieser ist rein! Man erinnere sich an Yoga Sutra 2.20.
Es lohnt sich also in jeder Hinsicht in einen ruhigen Geist zu investieren. Dies kann in der heutigen Zeit nicht oft genug wiederholt werden. Die vielen Diskussionen, die im Zusammenhang mit der derzeitigen Pandemie geführt werden, sind klar geprägt von der Abwesenheit von Klarheit und stille des Geistes. Dies führt letztlich weiter weg von einem heilen Herzen im Sinne der beschriebenen Sutras. Im Gegenteil – Diskussionen in denen das wohlgemerkt reine Sehen mit dem Herzen fehlt führen immer mehr zur Polarisierung, emotionalen Verletzung und zur Spaltung – unserer selbst, wie der Gesellschaft.
Ein möglichst stiller Geist und ein möglichst reines, heiles Herz – sowie deren Zusammenspiel im Sinne von Yoga und dem Spruch von Antoine de Saint-Exupéry – dienen uns in jeglicher kontroversen Diskussion besser. Sie lassen uns auf den Punkt des Wesentlichen kommen und erlauben uns klar zu erkennen, wo die Grenze zwischen unserem Einflusskreis und unserem Sorgenkreis verläuft. In anderen Worten, mit einem klaren, stillen Geist und einem heilen Herzen erkennen wir, wo es sich lohnt, die eigene Energie zu investieren und wo „die Liebesmüh vergebens ist“ und wir sprichwörtlich mit Windmühlen kämpfen.
In diesem Sinne: nimm Dir regelmäßig die Zeit, den Geist zur Ruhe zu bringen und zu klären. Es lohnt sich!
Herzlichst, Euer
Michael
Der inspirierende erste Band „Das Geheimnis des Yoga Sutra – Samadhi Pada“ ist bereits erschienen und erhältlich. Die Praktische Umsetzung von Yoga Sutra 1.36 und 2.20, um einen stillen, klaren Geist zu kultivieren, wird im Buch „Vishoka-Meditation“ dargestellt, inkl. Audio-Anleitungen zum Download. Einmal im Monat leitet Michael auch in einer offenen online-Stunde „Hatha Yoga und Meditation“ via Zoom mit Elementen aus dem System der Vishoka-Meditation an. Den nächsten Termin und die Anmeldung dazu findest Du auf seiner Seite Santosha-Yoga.de.