Das Geheimnis des Pranayama – Interview mit Pandit Rajmani Tigunait (Teil 2)
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Fortsetzung: Pandit Rajmani Tigunait im Interview über Pranayama in den Yoga Sutras
Einleitung und Interviewfragen von Michael Nickel
Agni-Magazin: Panditji, worum geht es also bei Patanjalis „bevorzugtem Pranayama„?
Pandit Rajmani Tigunait: Es ist wichtig zu erkennen und zu erfahren, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Atmen und dem, was uns zum Atmen bringt. Das, was uns zum Atmen bringt und den Atem antreibt, ist Prana. Wir müssen unterscheiden können, was sich in uns bewegt und was uns bewegt.
Das Geheimnis von Pranayama liegt darin, diese pranische Kraft einzufangen, zu sammeln, in uns zu halten und zu verdichten – und sie dann an die Stellen in unserem Körper zu bringen, an denen wir signifikante Transformation sehen wollen. Der Erfahrung nach dauert es einige Zeit, bis Prana eine solche Transformation vollzogen hat. Die Traditionen nennen dazu genaue Zeiten, deren Kontext hier jedoch zu weit führen würde. Doch wenn man Prana entsprechend lange auf eine bestimmte Stelle fokussiert, nennt man das Kumbhaka – Pranayama im Sinne von Atemverhaltung.
Hier kommen wir zu Yoga Sutras 2.49 bis 52. Sie beschreiben die Dynamik von Pranayama. Die ersten beiden widmen sich den kraftvollen Techniken. Sutra 2.51 und 52 sind jedoch anderer Natur. Es gilt, einen jungen Geist zu schaffen – Patanjalis bevorzugte Technik. Indem man die heilende, erleuchtende und leitende Kraft von Prana nutzt, wird ein Geist kultiviert, der lebendig ist, energetisch, voller Vitalität, Begeisterung und Mut. Dieser hat die Kapazität, unsere Tendenzen der Selbstverteufelung zu überwinden, die ansonsten stetig Hindernisse auf unserer inneren Suche und im Alltag erzeugen.
Also geht es bei Kumbhaka nicht um physisches Atem-Anhalten, sondern um die Fähigkeit, das Prana für längere Zeit subtil an einem Ort zu konzentrieren?
Das ist richtig! Die Praktiken der Atemverhaltung sind sehr technische Prozesse, und sehr schön, wenn man robust werden will, aber sie werden uns vom Hauptziel ablenken: der Siddhi, friedlich, glücklich und in der eigenen essentiellen Natur etabliert zu sein! – Dafür müssen wir ein Gefühl von Prana bekommen.
Erreichen wir dies und konzentrieren Prana in Ajna Chakra, für Heilung und Verjüngung unseres Geistes, wird dieser genährt, konzentriert, energetisiert und geheilt. Der Verstand wird geschärft und mit Willenskraft, Entschlossenheit und Selbstvertrauen gesättigt.
Wohin führt uns dies?
Wir können einen solchen Verstand nutzen, um in den Kern unserer Seele – den Lotus des Herzens – einzutreten. Nur ein klarer, stiller, junger und lebendiger Geist voller Energie erlaubt uns zu sehen, wer und was wir sind und die reine Freude des Seins zu erfahren. Sonst bleibt dies nur eine Vorstellung, die keine Wirkung hat, eine dauerhafte Veränderung herbeizuführen.
Wie nennt Patanjali diese Art von Pranayama?
Es heißt Chaturtha Pranayama – das „Vierte Pranayama“. In diesem wird der Atem extrem verfeinert – bis zu dem Punkt, an dem er nur noch an einem einzigen konzentrierten Punkt bewusst ist – Atem, Geist und Bewusstsein an einem Ort konzentriert. In diesem Zustand atmen wir absolut mühelos und sanft ein und aus und ruhen in der enormen pranischen Konzentration im Bereich des Ajna-Chakra.
Wie drückt sich diese Erfahrung aus?
Sie transzendiert die Physik der Atmung. Man spürt, es ist keine Übung mehr, es verwandelt sich in einen meditativen Zustand. Kein Bemühen, den Atem für bestimmte Zeit anzuhalten. Es existiert keinerlei Idee von Zeit und Raum. Der Raum, in dem man die Bewegung der pranischen Energie spürt, ist nicht einmal mehr physisch. Man kann ihm keine Größe zuordnen. Es existiert nur die Erfahrung reiner Präsenz. Dieser einzigartige Raum erstrahlt in seiner eigenen Leuchtkraft – Jyoti. Dieser Zustand ist Jyotishmati: Prana ist völlig im Geist absorbiert, und der Geist vollständig in Prana. Dieser besondere Raum ist voller reiner intrinsischer Freude – Ananda. Er ist völlig rein. Keine Spur von Trauer. Absolut frei von Angst, Wut, Trauer, Selbstmitleid, jeder Form von Selbstentmachtung. Keinerlei Tendenz, die lähmt, das zu sein, was man ist. Keine Spur eines Zustandes, der die Fähigkeit verkrüppelt, Ananda zu genießen.
Dabei kommt es zu völligem Alignment aller Ebenen: jenseits des physischen gibt es emotionales Alignment, jenseits intellektuellem gibt es spirituelles Alignment. In letzterem erleben wir spontan unsere Einheit mit dem Göttlichen. Dieser besondere Zustand ist Vishoka, so beschrieben in Yoga Sutra 1.36.
Wie würden Sie Chaturtha Pranayama auf den Punkt bringen?
Chaturtha Pranayama ist der Weg, der zu Vishoka führt: Es schafft Bewusstsein für unsere eigene innere Leuchtkraft – Jyoti – die uns dazu führt, Jyotishmati zu erleben – einen Zustand ohne Leid und Negativität. Dabei werden Geist und Atem auf der Suche nach der Brillanz und Leuchtkraft vereint, die von Freude durchdrungen ist.
Herzlichen Dank für das Interview, Panditji!
Dieses Interview erschien zuerst in im Yoga Aktuell 110 (2018). Der Yoga Sutra-Kommentar, auf den sich das Interview bezieht, „Das Geheimnis der Yoga Sutras – Samadhi Pada“ ist im Frühjahr 2019 im Agni Verlag auf deutsch erschienen und ist über den Agni Verlag Webshop, über unseren Amazon-Verlagsshop und natürlich im lokalen Buchhandel erhältlich. Das Buch wird inzwischen in vielen Aus- und Weiterbildungen für Yoga-Lehrer eingesetzt und wenn Du ein Interesse an authentischer Yoga-Philosophie hast, ist dieses Buch eine tiefe Bereicherung und Inspiration für den Sucher in Dir. Der Zweite Teil „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“ wird 2021 im Agni Verlag erscheinen. Wenn du nach praktischen Anleitungen suchst, findest Du einen Link zu zugehörigen Audio-Downloads in seinem Buch “Vishoka-Meditation” (2020).
Das Interview führte Michael Nickel. Fotos ebenfalls von Michael Nickel.