Einander von Herzen gegenseitig unterstützen – mehr benötigt denn je
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Von Michael Nickel
Eines meiner Lieblingsworte aus der indischen Philosophie ist Shraddha. Es wird oft mit „Glauben“ oder „Vertrauen“ übersetzt, umfasst jedoch eine Reihe weiterer Bedeutungen, die letztlich alle auf eines hinauslaufen, worauf Graham M. Schweig in seiner wunderbaren Bhagavad-Gita-Ausgabe hinweist, die leider nur auf Englisch vorliegt. Shraddha ist das „wo-hinein wir unser Herz legen“. Damit wird klar, das Shraddha wesentlich mehr meint als das, was wir im Deutschen mit den Worten „Glauben“ oder „Vertrauen“ ausdrücken. Shraddha ist dementsprechend alles in unserem Leben, bei dem wir „von Herzen dabei“ sind.
Shraddha umfasst eine ganze Weltsicht und Lebenseinstellung – in einem Wort! Das ist oft das herrliche und für mich faszinierende an den Begriffen aus der Yoga-Philosophie. Dementsprechend findet man das Wort auch in unterschiedlichem Kontext. Etwa in der Bhagavad Gita, wo Krishna zu Arjuna sagt:
Die Shraddha des Verkörperten [des Menschen] ist von dreierlei Art, das sich aus dem jeweiligen Guna oder Zustand des Seins ergibt. Die von der Natur des Sattva, oder von der Natur des Rajas, oder sogar von der Natur des Tamas – höre nun davon.
Entsprechend dem Grad an Sattva manifestiert sich die Shraddha eines jeden, oh Bharata[Arjuna]. Ein Mensch ist aus dieser Shraddha gemacht, was auch immer diese Shraddha ist, das ist in der Tat das, was man ist. Bhagavad Gita 17.2-3, basierend auf der englischen Übersetzung von Graham M. Schweig
In andren Worten: Wir sind unsere Shraddha. Wir sind das, „wohin wir unser Herz legen“. Und das, was wir sind, manifestiert sich entsprechend des Grades an Sattva, das darin steckt. Es kommt also auf Sattva an, was sich aus unserer Weltsicht heraus in der Welt entfaltet. Es kommt auf unsere lichtvolle Reinheit und ungetrübte
Wie könnte es bei einem so wichtigen Wort anders sein: auch Patanjali spricht im Yoga Sutra über Shraddha!
Im Falle der Übrigen [der durchschnittlichen Menschen] geht dem [Samadhi, oder der Selbstverwirklichung, oder der völligen Absorption in der eigenen Essenz] Shraddha voraus, wie auch Tatkraft, Gedächtniskraft, Stille des Geistes und intuitive Weisheit.
Yoga Sutra 1.20 nach Pandit Rajmani Tigunait „Das Geheimnis des Yoga Sutra – Samadhi Pada„
Wieder lautet die Botschaft, wie schon zuvor in der Bhagavad Gita: Shraddha gehört dazu, wenn wir es ernst meinen. Wir kommen nicht ohne diese innere Einstellung aus, „ohne Vorbehalte das Herz in etwas hineinzulegen“. Wenn wir auf dem spirituellen Pfad sind und kein „Superyogi von Geburt“ – um die geht es nämlich in den Sutras davor – dann ist Shraddha eine Vorbedingung, um Selbstverwirklichung oder Samadhi zu erreichen.
Was im Zusammenhang hier auffällt, ist die Verbindung des Wortes Shraddha mit „Tatkraft, Gedächtniskraft, Stille des Geistes und intuitiver Weisheit“, um ein sinnerfülltes Leben zu führen. Es geht also nicht alleine darum, „unser Herz in irgendetwas hineinzulegen“ und dann abzuwarten, es geht auch hier, wie schon im obigen Zitat aus der Bhagavad Gita, um Manifestation. Es geht darum, etwas zustande zu bringen auf unserem Weg. In der Welt etwas konstruktiv beizutragen mit Hilfe unserer Tatkraft, mit unserem zuvor im Leben erworbenen Wissen (das Kraft des Gedächtnisses zu uns zurück kommt) sowie mit Hilfe der Stille des Geistes und unserer ureigenen intuitiven Weisheit. Es geht also darum, unsere persönliche Shraddha zu leben!
Es gibt sicher viele Wege, um die eigene Shraddha zum Ausdruck zu bringen – das ist auch das Schöne daran, sein „Herz in etwas zu legen“. Mit Sattva wohlgemerkt, wollen wir der Bhagavad Gita folgen. Hüten wir uns also in diesem Zusammenhang vor Polarisierung! Denn Polarisierung ist Rajas pur, eine wütende Flamme, die wie eine Feuersbrunst das vernichtet, was im sattvischen Keim unserer Shraddha zugrunde liegt. Im problematischsten Falle hinterlässt eine solche Feuersbrunst der Polarisation nur Tamas – völlige Dunkelheit der Depression und der absoluten Unfähigkeit, auch nur irgendetwas Konstruktives zu tun. Das ist das letzte, was wir in herausfordernden Zeiten benötigen.
Wir alle sind soziale Wesen und wir haben als solche Gemeinschaften gebildet, Gesellschaften, deren unweigerlicher Teil wir sind. Was wir in diesem Zusammenhang im Gegensatz zur derzeit allgegenwärtigen Polarisation benötigen, sind die im Yoga Sutra genannten „Tatkraft, Gedächtniskraft, Stille des Geistes und intuitive Weisheit“, gepaart mit dem sattvischen Kern unserer persönlichen Shraddha. Wollen wir konstruktiv zu einer Gesellschaft beitragen, die die Herausforderungen unserer Zeit meistert, dann benötigen wir diese vier Eigenschaften und müssen einander von Herzen unterstützen, so dass alle „ihre Herzen in einer sattvischen Weise in das für sie Passende hineinlegen“ können.
Was ist also der sattvische Kern Deiner Shraddha? Und wie kannst Du mit dessen Hilfe andere von Herzen in schwieriger Zeit unterstützen?
Herzlichst,
Euer Michael