Tempus fugit, die Zeit flieht! – Oder ist es doch nur unsere Wahrnehmung, die rast?
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Von Michael Nickel
„Tempus fugit“, sagen die Lateiner, „die Zeit flieht“. Dieses Gefühl mag so manchen beschleichen, angesichts der sich jährenden Coronapandemie-Bedingungen, unter denen wir unser Leben gestalten. Der Aspekt der Zeit wird uns immer dann bewusst, wenn etwas nicht schnell genug kommt oder geht oder wenn die Wahrnehmung umgekehrt ist und etwas zu schnell da ist oder nicht lange genug präsent bleibt.
Zeit ist physikalisch
Auch wenn de meisten von uns ein ambivalentes Verhältnis zur Zeit haben, ist es ein spannendes Phänomen, denn es lässt sich aus diametral entgegengesetzten Blickwinkeln betrachten. Man kann Zeit rein naturwissenschaftlich als Naturgesetz der vierten Dimension betrachten, so wie es die Physik tut, und dabei ihr Zusammenspiel mit dem physischen Raum beobachten. Das hat zunächst mal wenig mit unserem umgangssprachlichen Zeitbegriff zu tun. Denn man kann Zeit auch über all die zyklischen Phänomene in der Natur betrachten, den Tages- und Jahresverlauf der Sonne, die Mondphasen, die Gezeiten, die Jahreszeiten, der Menstruationszyklus, unsere Wach-Schlaf-Zyklen, die Traum-Tiefschlaf-Zyklen, all die physiologischen Zyklen in unserem Körper und unseren Zellen, bis hin zu den kleinsten molekularen Zeitgeber-Mechanismen, die unsere internen „biologischen Uhren“ steuern.
Zeit ist zyklisch
Von genau dieser Zeitbetrachtung leitet sich unser modernes allgemeines Verständnis von Zeit ab: die zyklische Uhrzeit, abhängig von der Tageslänge, die für die Definition unserer Zeiteinheiten wiederum von einem zyklischen Jahresumlauf der Erde um die Sonne abhängt. Diese Zeitbetrachtung dominiert unsere westliche Weltsicht seit langem. Das Resultat dieser Betrachtung ist letztlich die Uhrzeit, die wir vom Ziffernblatt ablesen – und für viele Menschen ist dies auch die bestimmende, von außen vorgegebene Wahrnehmung von Zeit. Genau darum können wir derzeit sagen: „Schon ein Jahr in der Pandemie“.
Zeit ist subjektiv
Die dritte und für uns Menschen wichtigste Betrachtung der Zeit ist jedoch eine sehr persönliche: unser ureigenes subjektives Zeitempfinden. Denn ganz gleich was die äußere Uhrzeit oder der Kalender sagen, wer kennt nicht dieses Gefühl der Diskrepanz der eigenen Wahrnehmung der Zeit. Diese Betrachtung ist eine psychologische und zugleich eine, die tief im Zeitbegriff der östlichen Philosophien verankert ist. Dies gilt besonders für die Samkhya-Philosophie, die dem Yoga zu Grunde liegt. Sie betrachtet Zeit als etwas höchst subjektives, wie wir gleich sehen werden.
Die alles verschlingende Zeit
Zugleich wird aber auch die phänomenologische zyklische Zeit in den östlichen spirituellen Weltsichten zentral anerkannt, egal ob als Konzept und Universalkraft oder als verbildlichte Göttin „Kala„, „Die Schwarze“, der alles verschlingende Zeitaspekt der „göttlichen Mutter“ oder der „großen Göttin“, die auch unter dem Namen „das Universum“ bekannt ist. Kala ist ein extrem weites und spannendes Feld. Ganze spirituelle Systeme des Ostens drehen sich um sie, etwa das des Kalachakra des tibetisch-buddhistischen Tantra, dem der Dalai Lama regelmäßig in riesigen Zeremonien Ausdruck verleiht.
Wir wollen heute aber die subjektive Dimension unserer Beziehung zur Zeit betrachten. Letztlich ist dieser Aspekt ein zentrales Thema im Yoga im klassischen Sinne und damit hinsichtlich dessen, was wir Meditation nennen. Es geht dabei um Transzendenz. Es geht darum, unseren inneren Wesenskern zu erfahren und dieser innere Wesenskern liegt jenseits aller Wahrnehmung von den scheinbaren Diskrepanzen im Universum.
Schauen wir uns dazu nochmals diese innere Diskrepanz an, welche wir zwischen der äußeren zyklischen Zeit und unserer inneren Zeitwahrnehmung empfinden. Diese kann sich in zweierlei Hinsicht ausdrücken. Zunächst wäre da die Möglichkeit, dass wir selber so im Fluss und in der Vorwärtsbewegung des Lebens absorbiert sind, dass wir den Fluss der äußeren zyklischen (Uhr)Zeit gar nicht mehr wahrnehmen. Erst wenn wir innehalten und uns fragen, welche Zeit gerade ist, stellen wir fest wie viel Zeit „verflogen“ ist.
Zeitwahrnehmung: von kindlicher Flexibilität zur erwachsenen festgefahrenen Tendenz
Auf der anderen Seite kann das Gefühl entstehen, dass die Zeit stillsteht und sich alles wie ein Kaugummi in die Länge zieht. Für manche unter uns mag dies die dominante Empfindung der Pandemiezeit sein. Dies steht im Gegensatz zum Gefühl von „tempus fugit“, dass alles in uns und außerhalb von uns rastlos dahin galoppiert und uns keine innere oder äußere Pause gönnt. Dies mag für für viele eine allgegenwärtige Erfahrung sein, auch in der Pandemiezeit. Als Erwachsene tendieren wir meist zu einer dieser beiden Empfindungen – während wir als Kinder ein herrliches Wechselspiel aus beidem hatten. Erinnern wir uns doch an diese genüssliche Langeweile in den Sommerferien, in der die Zeit im heißen flirren der Sommerluft von morgens bis Abends zu stehen schien, um bei nächster Gelegenheit von anregender Aktivität und innerem Vorwärtsdrängen abgelöst zu werden.
Das Konzept von Zeit, Raum und Kausalität in der Samkhya-Philosophie
Genau dieses kindliche Wechselspiel inneren Zeitempfindens bringt den Zeitbegriff der Samkhya-Philosophie und damit des Yoga auf den Punkt: Zeit oder Kala ist – in der einzigen uns zur Verfügung stehenden Wahrnehmung – subjektiv. Dasselbe gilt für den Raum oder Akasha, den wir um uns herum wahrnehmen. Auch Raum ist aus unserer persönlichen Sicht nicht objektivierbar und bleibt damit subjektiv. Beide, Kala und Akasha, sind inhärente Grundlagen unseres menschlichen Geistes. Beide werden in der Samkhya-Weltsicht als Manifestation des Potentials der Urnatur oder Prakriti gesehen, dem aktiven Prinzip, das allem zugrunde liegt, auch unserer mentalen Welt. Auch das Gesetz von Ursache und Wirkung oder Karana-Karya-Bhava fällt in diese Kategorie als Resultat und Manifestation von Prakriti. Dementsprechend unterliegt auch das Gesetz von Ursache und Wirkung der angesprochenen Subjektivität – und kann damit überwunden oder transzendiert werden. Genau dies geschieht in der „Erleuchtung“, im Samadhi oder Nirvana, wie auch immer man diesen Zustand von völliger Transzendenz und Absorption im inneren Wesenskern nennen möchte. Das erscheint jedoch für viele theoretisch und weit entfernt. – Ist es jedoch nicht, wie wir gleich sehen werden.
Was sich in den Worten der Samkhya-Philosophie vielleicht etwas trocken und theoretisch anhört ist doch für uns in unserer persönlichen Wahrnehmung der Pandemiesituation und -zeit von Bedeutung. Das Gefühl, der Situation in der einen oder anderen Weise ausgeliefert zu sein, scheint weit verbreitet zu sein. Doch genau dieses Gefühl ist ein Resultat unserer persönlichen Wahrnehmung von subjektivem Raum, Zeit und Gesetz der Kausalität – welche wiederum elementare Bausteine unseres Geistes sind.
Die Zeit durchbrechen – eine Spezialität mancher Yoga-Praktiken
Während Yoga im klassischen Sinne die Transzendenz von all diesem als Selbstzweck der wahren Selbsterfahrung als Ziel ausruft, sind manche auf dem Yoga aufbauende philosophische Strömungen wesentlich lebenspraktischer. Die tantrischen Formen des Yoga – zu denen auch der Hatha Yoga zählt – sind letztlich als praktische „innere Ingenieurskunst“ anzusehen, mit deren Hilfe wir unsere subjektiven Wahrnehmungen der Welt so verändern, dass wir in dieser wahrgenommenen Welt möglichst ohne innere und äußere Konflikte leben können. Nur dann kann sich die uns angeborene Lebensfreude entfalten und ausdrücken. Nur dann können wir die Erfüllung finden, welche unserem Wesen, unserer Persönlichkeit und damit unserem persönlichen Dharma, entsprechen. Unsere subjektive Wahrnehmung der Welt wiederum, verändert sich jedes Mal, wenn wir sie transzendieren und dann wieder zu ihr zurückkehren.
Yoga Nidra bringt Dich „dorthin“
Diese Transzendenz ist das Eintauchen in den vierten Zustand, genannt Turiya, jenseits von Wachen, Träumen und Tiefschlaf, wie es die Mandukya-Upanishad wunderbar zum Ausdruck bringt. Dieses Eintauchen geschieht – entsprechend der Ansicht einiger tantrischer Traditionen – nicht nur im Samadhi oder Nirvana, sondern auch immer wieder für Bruchteile von Augenblicken während des Tages und ebenso im Schlaf zwischen den Schlafphasen. Und es geschieht im Yoga Nidra – zumindest in den klassischen, traditionellen Varianten, welche wiederum auf die Mandukya-Upanishad zurückgehen. Während Turiya als Samadhi-Erfahrungen in der Meditation als der Gipfel eines langen Übungsweges gilt, lässt sich zumindest ein Aufblitzen von Turiya-Erfahrungen im Yoga Nidra auch für weniger Geübte erreichen.
Aus diesem Grund ist für mich persönlich – trotz meiner seit Jahren nahezu täglichen und überaus wertgeschätzten Meditationspraxis – Yoga Nidra aus der Himalaya-Tradition eines der größten Geschenke, welches die alten Meister und Erforscher der Innenwelt an uns weitergegeben haben. Es führt uns in den Raum jenseits des Raumes und in die Zeit jenseits der Zeit. Und auch wenn der Effekt von Yoga Nidra der Kausalität der Übungen entspringt, transzendiert es uns über die Kausalität hinaus.
In vielen Fällen haben mir Menschen, die Yoga Nidra in dieser Form zum ersten Mal praktiziert haben, davon berichtet, dass dabei jegliche Wahrnehmung außerhalb des eigenen Seins für eine unbestimmte Zeitdauer verschwunden sind. Wer vermag schon zu sagen, wie lange diese Erfahrung währte und wo sie stattfand und weshalb, da doch Raum- und Zeitgefühl und unser Sinn für Ursache und Wirkung in dieser Erfahrung völlig verschwunden waren. Das erstaunlichste jedoch ist der Nachklang oder die Wirkung in unserem subjektiven Raum-Zeit-Gefüge, die eine solche Turiya-Erfahrung in Yoga Nidra hervorruft. Die Welt, die wir dann wahrnehmen, scheint buchstäblich eine andere zu sein. Doch nicht die Welt hat sich verändert, sondern „nur“ unsere subjektive Wahrnehmung. Oder in Worten der Samkhya-Philosophie: Nicht die Prakriti der Welt im Außen hat sich verändert, sondern es ist etwas in unserer eigenen Prakriti geschehen.
Dies ist ein unvergleichlicher und doch meist tief versteckter Schatz in uns, den wir jedoch jederzeit „heben können“, indem wir eine bewusste Wahl treffen. Die Rahmenbedingungen, um Yoga Nidra zu praktizieren lassen sich in vielfältiger Weise erschaffen. Und so können wir aus „tempus fugit“ ganz bewusst „tempus requiescit“ werden lassen: „Die Zeit ruht“.
In diesem Sinne wünsche ich inspirierendes, erfischendes und positiv-veränderndes sattvisches Ruhen!
Herzlichst,
Euer Michael
P.S.: Die klassische, traditionelle Yoga-Nidra-Variante, welche sich auf die Mandukya-Upanishad bezieht, biete ich einmal im Monat am Sonntag spätnachmittag als online-Yogastunde via Zoom an. Meist in der zweiten Monatshälfte. Mehr Informationen und Anmeldung auf www.santosha-yoga.de.
Wenn Du Dich für die Hintergründe der Samkhya-Philosophie interessierst, empfehle ich Dir „Das Geheimnis des Yoga Sutra – Samadhi Pada“ von Pandit Rajmani Tigunait. Sowohl im eigentlichen Kommentar zu seiner Yoga-Sutra-Übersetzung als auch im umfangreichen Anhang findet sich eine fundierte und zugleich leicht verständliche Einführung in die Samkhya-Philosophie.
Die Hintergründe zum vierten Zustand Turiya, den drei übrigen Zuständen und die traditionellen philosophischen Grundlagen findest Du in „Die Essenz des Seins: Mandukya-Upanishad“ von Swami Rama. Das Buch enthält auch einen Link zu einem Audio-Download einer Yoga-Nidra-Kurzversion, die erste Erfahrungen erlaubt.