Das Gayatri Mantra: Erwachen in Hingabe an die Sonne

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Lesedauer 10 Minuten

Von Rolf Sovik

Die Dämmerungsstunden – morgens und abends – rufen uns dazu auf, die Reise zurück zu unserem inneren Selbst anzutreten. Deshalb singen die Veden: „O Paar göttlicher Mächte, Nacht und Morgengrauen, kommt heran … wie zwei Boote, bringt uns hinüber.“ In alten Zeiten standen eifrige Sucher früh auf, badeten, führten ihre Rituale durch, rezitierten Mantras und saßen in Meditation. Am Abend spülten sie die Müdigkeit des Tages mit einer weiteren Meditationsphase weg. Auch heute noch sind unter Yoga-Praktizierenden die morgendlichen und abendlichen Übergänge die traditionellen Meditationszeiten.

Die Meditation, die zu diesen Tages- und Nachtzeiten durchgeführt wird, wird Sandhya-Meditation genannt (im Sanskrit bedeutet das Wort Sandhya einen Übergang). Sandhya-Meditationen, die teilweise noch aus vedischen Zeiten stammen, werden auf der ganzen Welt praktiziert. Diese Meditationen durchdringen das tägliche Leben von Millionen von Menschen mit einem Gefühl der Hingabe und Selbstbeobachtung. Wie das frühe Morgenlicht, das die Dunkelheit vertreibt und die Landschaft erhellt, reinigt, erleuchtet und nährt die Sandhya-Meditation den Geist.

Die Symbolik der Veden

Die spirituellen Themen der Sandhya-Praktiken werden durch vedische Symbole vermittelt. Die Veden verehren eine nicht greifbare Wirklichkeit durch Hymnen an einen greifbaren Kosmos. Sie preisen die Sonne, den Mond, den Wind, das Feuer und den Regen; sie verallgemeinern menschliche Archetypen wie Mutter, Tochter, Schwester, Bruder und Vater; und sie erkennen menschliche Erfindungen wie den Topf, die Tür und das Rad als Ausdruck der universellen Wahrheit an.

Wir sehen nur einen Teil des Ganzen.

Anders ausgedrückt: Die Veden sagen uns, dass der Kosmos, in dem wir leben, die höchste Wirklichkeit selbst ist, aber sie wird durch die Dramen und Träume des Lebens verschleiert. Wir sehen nur einen Teil des Ganzen – die Zyklen des Tages, den Wechsel der Jahreszeiten, Geburt und Tod, das Pflanzen und Ernten. Dies sind die manifesten Erscheinungen eines unmanifesten Ganzen, der sichtbare Schimmer des Unsichtbaren.

Doch so wie der erste Blick auf den Ozean in uns ein Gefühl des Staunens über die scheinbare Unendlichkeit des Wassers der Erde weckt, so überströmt der Geist bei jeder Morgendämmerung und Abenddämmerung, bei jeder Geburt und jedem Tod einen Moment lang das Staunen über das unsichtbare Ganze. Die Allgegenwärtigkeit des Unsichtbaren im Sichtbaren, des Unmanifesten im Manifesten, wird in den Veden so beschrieben:

Drei Viertel der göttlichen
Persönlichkeit erhebt sich nach oben,
Ein Vierteil manifestiert sich
wieder hier.
Danach breitet es sich
überall aus,
sowohl in der belebten
und unbelebte Welt.

Rig Veda 10.90.4

Verse wie dieser sind Türöffnungen – Offenbarungen der unendlichen Wirklichkeit, wie sie in der Unermesslichkeit dieses Kosmos erscheint. Doch die Veden vereinfachen nicht zu sehr. Sie erkennen an, dass sich die Symbole der Wirklichkeit ständig verändern und sich überschneiden können. Zum Beispiel ist das Licht am Tag das Produkt von Aditya (der Sonne), während es in der Nacht das Produkt von Agni (Feuer) ist. Aditya und Agni werden also als Brüder bezeichnet. (Das findet sich auch in der christlichen Mystik in dieser Weise, speziell im Sonnengesang des Heiligen Franz von Assisi; Anmerkung des Übersetzers). In ähnlicher Weise wird die Kraft der Erleuchtung sowohl durch das Licht im Kosmos als auch durch die Intelligenz in der menschlichen Persönlichkeit symbolisiert. So kann das Wort Licht sowohl das Licht der Sonne als auch die Kraft der Intelligenz bedeuten.

Wir alle, Götter und Menschen, sind Teil einer fortlaufenden Zeremonie der universellen Lebensrhythmen.

Die höchste Wirklichkeit ist also nicht auf ein bestimmtes Symbol beschränkt oder wird durch eine einzelne Naturkraft verkörpert. Es sind nicht der Sonnengott, der Mondgott oder der Gott des Blitzes, die in den Veden letztlich gepriesen werden. Sie sind lediglich die „Priester“ eines kosmischen Rituals, einer fortlaufenden Zeremonie, die sich in Form der universellen Lebensrhythmen direkt vor unseren Augen abspielt. Wir alle, Götter und Menschen, sind ein Teil dieses Rituals; jeder hat eine Rolle zu spielen.

Das Gayatri Mantra

Wie können wir dann als Einzelne an dieser Vision teilhaben? Die Frage wird durch das Gayatri Mantra beantwortet, das die kollektive Weisheit der gesamten vedischen Offenbarung verkörpert. Das Gayatri Mantra, das im Rig Veda (3.62.10) zu finden ist, hat seinen Namen unter anderem deshalb, weil es im Gayatri-Meter geschrieben ist (24 Silben, aufgeteilt in drei Zeilen mit je acht Silben). Das Wort Gayatri bedeutet aber auch „die, die den Sänger beschützt“ (von gai– „singen“ und trai– „beschützen“). Gayatri ist also ein Name für die göttliche Mutter, die ihre Kinder beschützt und sie zur Selbstverwirklichung führt.

Das Gayatri Mantra lautet:

Wenn das Mantra jedoch in der Meditation rezitiert wird, wird am Anfang eine zusätzliche Zeile hinzugefügt. Diese Zeile enthält den Laut Om, gefolgt von drei kurzen Lauten, den Maha Vyahritis (die „großen Äußerungen“: Bhur, Bhuvah und Svah). Das vollständige Mantra, wie es in der Meditation verwendet wird, lautet also:

Die Chhandogya Upanishad erklärt die Bedeutung der ersten Zeile. Sie beschreibt, dass Prajapati, der Herr des Universums, einst über die Natur der drei Welten – Erde, Himmel und Erde – kontemplierte und durch intensive Konzentration in der Lage war, die wesentliche Leitkraft jeder dieser Welten zu entdecken: Agni (Feuer) regierte die Erde, Vayu (die Lebenskraft) regierte den Himmel und Aditya (die Sonne) regierte das Himmelsgewölbe.

Noch einmal konzentrierte sich Prajapati intensiv auf diese drei „Samen“ oder Leitkräfte und erhielt ihre Essenzen: Vom Feuer erhielt er die Verse des Rig Veda, von der Lebenskraft den Yajur Veda und von der Sonne den Sama Veda.

Er konzentrierte sich noch einmal auf die drei Veden selbst und erhielt vom Rig Veda die Silbe Bhuh, vom Yajur Veda die Silbe Bhuvah und vom Sama Veda die Silbe Svah. So sind die drei Maha Vyahritis die Essenz der Veden, die Samen des Feuers, der Lebensenergie und der Sonne sowie die Samenklänge der Erde, des Raums und des Himmels.

Om, so heißt es, „ist all dies“.

Schließlich konzentrierte sich Prajapati auf diese drei Vyahritis und erlangte durch intensive Konzentration einen einzigen, reinen Klang, die Silbe Om. Om, so heißt es, „ist all dies“.

Die nächsten beiden Zeilen des Gayatri Mantras verehren das Konzept des Sonnenlichts, der Energie, der Reinheit, der Transzendenz, der Erleuchtung und des Mitgefühls (die Sonne leuchtet für alle). Sie lauten:

Dies wird übersetzt mit: „Wir erinnern uns in uns selbst und meditieren über den wundersamen Geist des göttlichen Sonnenwesens.“

Die letzte Zeile lautet:

Hier ändert sich der Ton. Diese Zeile stellt eine Bitte dar – eine Bitte um innere Klarheit und intuitives Bewusstsein. „Führe uns“, bittet das Mantra. Das Wesentliche dieser letzten Zeile ist in den ersten und letzten Worten enthalten. Das letzte Wort, prachodayat, bedeutet „möge er führen, leiten, lenken“. Das erste Wort, dhiyah (dhiyo), kann einfach „Gedanken“ bedeuten, aber wichtiger ist, dass es sich auf die höheren Fähigkeiten des Geistes und die intuitive Vision bezieht. Das Mantra bittet darum, dass die feinste Kraft des Geistes, seine intuitive Fähigkeit, von „dem wundersamen Geist des göttlichen Sonnenwesens“ geleitet wird. Die vollständige Übersetzung des Gayatri Mantras lautet also:

Om. In jeder der drei Daseinsebenen erinnern wir uns an den wundersamen Geist des göttlichen Sonnenwesens und meditieren über ihn; möge er unsere innere Vision leiten.

Gayatri ist sowohl ein Gebet als auch ein Mantra. Als Mantra ist es eine Reihe von Klängen, die von Meditierenden verwendet werden, um einen höheren Bewusstseinszustand zu erreichen – ein Zustand, der durch die Sonne symbolisiert wird. Als Gebet bittet es Gott um Führung. „Leite meinen Geist“, heißt es. In diesem Gebet ist eine ausführliche Darstellung der spirituellen Philosophie enthalten. Es beschreibt den Bhargah (den Sonnengeist), der die Essenz von Savitri (dem Sonnenwesen) ist, das wiederum die innere Identität von Surya (der Sonne) ist. Gayatri als Gebet ist eine Bitte an Tat (Das), welches das unendliche Licht des reinen Bewusstseins ist.

Energie

Energie

Aber was ist dieses reine Bewusstsein? Die Veden sagen uns, dass das reine Bewusstsein, das im höchsten Himmel wohnt (und somit alles durchdringt), auch das ist, was in jedem menschlichen Wesen wohnt. Das Bewusstsein ist das Licht der Erkenntnis:

Das Licht, das oben im Himmel leuchtet und alle Räume durchdringt, das überall ist, sowohl unten als auch in den entlegensten Winkeln der Welt – das ist dasselbe Licht, das im Menschen leuchtet.

Chhandogya Upanischad 3.13.7

In seiner Doppelrolle als Mantra und Gebet reinigt Gayatri also den Geist und lädt die feinsten Kräfte des Geistes zum Erwachen ein.

Sandhya Meditation

Wenn du das Gayatri Mantra üben möchtest, nimm dir morgens oder abends Zeit dafür, oder beides. (Deine Meditation muss nicht genau mit dem tatsächlichen Auf- oder Untergang der Sonne zusammenfallen, vor allem nicht in den höheren Breiten der nördlichen Hemisphäre). Hier ist eine kurze Übung, die du durchführen kannst:

  • Setze dich in eine bequeme Sitzhaltung. Achte auf eine entspannte Atmung und nimm dir eine Weile Zeit, um zu spüren, wie der Atem durch die Nasenlöcher strömt. Das wird deinen Geist beruhigen und fokussieren.
  • Spüre die goldenen Strahlen der Sonne, die sich in deinem ganzen Körper und Geist ausbreiten.
  • Visualisiere nun eine goldene, sonnenägleiche Kugel und bringe dieses goldene Licht in dich hinein. Lass es in der Mitte der Augenbrauen eintreten und lass dieses Licht langsam nach unten in die Mitte der Brust wandern. Spüre, wie sich die goldenen Strahlen der Sonne in deinem ganzen Körper und Geist ausbreiten.
  • Bedanke dich einen Moment lang bei den Sehern der Vedas. Dann beginne im Zentrum dieser goldenen Kugel, die im Anahata Chakra (Herzzentrum) ruht, mental das Gayatri Mantra zu wiederholen. Rezitiere es so, als ob das Bewusstsein in deinem Herzen mit deiner inneren Sonne verschmolzen ist und der Klang nun aus dem Kern dieser Sonne fließt. Von dort aus lässt du die Klänge der Silben in deinem ganzen Wesen widerhallen.
  • Wiederhole das Mantra so oft, wie es dir natürlich erscheint. Für eine längere Übung kannst du eine Mala (eine Kette von 108 Perlen zum Zählen der Mantra-Wiederholungen) verwenden. Lass den Klang in dir nachklingen. Lass ihn den gesamten Raum deines inneren Wesens ausfüllen.

(Mehr allgemeine Hinweise zur Mantra-Japa-Praxis finden sich im Beitrag zu Ajapa Japa)

Mit der Zeit und etwas Übung wird der Rhythmus der täglichen Gayatri Praxis deine Morgen- und Abendstunden mit stiller Freude erhellen. Das Mantra wird dich über unruhige Orte erheben und dein spirituelles Vertrauen wiederherstellen. Stille tägliche Praxis und Erhebung – das sind die Bedürfnisse der Seele. Beides findest du im Gayatri Mantra.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Wisdom Library des Himalayan Institute, USA.

Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

 

Rolf Sovik
Rolf Sovik

Rolf Sovik, Präsident und Spiritueller Leiter des Himalayan Institute, Doktor der Psychologie, begann 1972 sein Studium von Yoga und Meditation. Er ist Schüler von Swami Rama und Pandit Rajmani Tigunait und hat unter ihrer Anleitung die Lehren der Himalaya-Tradition erforscht. Er hat Abschlüsse in Philosophie, Musik, Östliche Studien und Klinische Psychologie. Derzeit lebt er mit seiner Frau Mary Gail am Himalayan Institute.

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