Dringend benötigt: wahrer tierischer Instinkt, auf unser Ruhebedürfnis zu hören.
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Von Michael Nickel
Der Mensch ist ein Tier, das sich doch von den übrigen Tieren unterscheidet. Die Philosophien der Menschheitsgeschichte werden nicht müde, dies zu betonen, unter Bezug auf unseren großartigen Intellekt. In der Tat ist der menschliche Intellekt (von lateinisch intellectus – Erkenntnisvermögen, Einsicht, Verstand) ein großes Geschenk, was uns das Universum im Laufe unserer Evolution zuteil werden ließ. Eines der faszinierendsten Kinder unseres Intellekts ist die schiere, grenzenlose Kreativität, die der menschliche Geist an den Tag legen kann. Sei es, um rein mentale Konstrukte aufzubauen – wie etwa komplexe Geschichten und Theorien. Oder noch viel augenfälliger, in der Art und Weise, wie der Mensch immer ausgefallenere physische und zunehmend auch virtuelle Objekte erschafft, zu seinem eigenen Nutzen und zu seinem Amüsement oder seiner ästhetischen Befriedigung – oder allem zusammen.
Ganz gleich, ob wir als Mensch persönlich an der Erschaffung all dieser mentalen, physischen und virtuellen Konstrukte beteiligt waren oder auch nicht, unser Intellekt, egal wie groß oder klein, nutzt diese Auswürfe der kollektiven Kreativität allzu gerne und oft auch ziemlich unreflektiert. Der Intellekt fühlt sich dadurch in sich selbst bestätigt und verfestigt immer mehr seinen Glauben, alleiniger Herrscher „im Hause“ zu sein. Unser als „tierisch“ gebrandmarkter Instinkt dagegen, wird dabei vom Intellekt nur zu oft gnadenlos in die Ecke gedrängt. Stattdessen installiert der Intellekt dann einen Ableger von sich selbst, den er – wie der sprichwörtliche Wolf im Schafpelz – als „höheren Instinkt“ ansieht, der in Wahrheit jedoch oft lediglich das Resultat einer lange antrainierten Weltsicht ist. Je nach Training dieser Weltsicht, die von vielen äußeren Faktoren unserer Sozialisation und unserem mehr oder weniger selbst gewählten Umfeld abhängen, mag dieser intellektualisierte Instinkt mehr oder weniger konstruktiv für unser Leben sein. Er kann uns zu einem als positiv empfundenen Leben führen oder uns immer tiefer in den Strudel von Irrungen und Wirrungen des ewigen Leidens – auch bekannt als „Hölle auf Erden“ – hineinziehen.
Die Intellektualisierung des Instinkts
Letzteres scheint im vergangenen Jahr besonders in Mode gekommen zu sein – oder sagen wir besser, die Umstände der Pandemie scheinen diese Seite des intellektualisierten Instinkts immer mehr und immer verbreiteter ans Licht zu bringen. Was wir in solchen Zeiten jedoch wirklich brauchen, ist Zugang zu unserem wahren tierischen Schutzinstinkt. Zu oft denken wir beim Begriff des „tierischen Instinkts“ lediglich an „Kampf und Flucht“. Dabei reduzieren wir jedoch Tiere zu „Geschöpfen der Angst“ und übersehen dabei einen Aspekt, den jeder Tierbesitzer und Tierbeobachter kennt, aber vielleicht gar nicht bewusst wahrnimmt, weil er weniger augenfällig als Kampf und Flucht ist. Es ist ein Aspekt des tierischen Instinktes, den wir dringend benötigen – den wir dringend kultivieren müssen, nicht zuletzt, um Mensch zu bleiben.
Ich spreche von dem Instinkt, wahrzunehmen und anzunehmen, wann Rückzug und Ruhe angesagt ist. Ein vollkommen unspektakulärer, aber vielleicht für das Überleben – und mehr noch, für das gute, konstruktive, glückliche Leben voller Freude im Alltag – absolut essenzieller Aspekt des Instinktes. Es scheint zu unserer Zivilisationskrankheit Nummer eins geworden zu sein, dass unser Intellekt diesen Aspekt des angeborenen „tierischen“ Instinkts einfach hinweg wischt, nicht zuletzt unter Nutzung seines willfähigen Sklavens des „intellektualisierten Instinkts“. Beobachtet man Tiere dagegen, dann stellen wir fest, dass sie einen großen Teil ihres Lebens in einer Art inneren Regenerationsmodus verbringen, was nicht unbedingt der so offensichtliche Schlaf von Haushunden oder Hauskatzen sein muss. Es gibt viele Tiere, die auch in äußerer Aktion mit dem Gehirn in den Ruhemodus gehen, wie etwa Mauersegler, die im Flug schlafen oder Delphine, bei denen die Gehirnhälften jeweils abwechselnd schlafen.
Unser Gehirn braucht Ruhephasen
Es geht also nicht unbedingt um das Schlafen an sich – wobei das Thema der durch unseren Intellekt hervorgerufenen Schlafprobleme ganze Bücher füllen könnte. Es geht darum, dass wir instinktiv unserem Gehirn die Ruhephasen gönnen, die es braucht – unter anderem dafür, dass unser „unvernünftiger“, weil ewig aktiv sein wollender Intellekt, konstruktiv funktionieren kann. Dieser „tierische“ Instinkt, zu wissen, wann unser Gehirn Ruhephasen benötigt, ist also ein treu ergebener Diener, der sich zwar regelmäßig bemerkbar macht, aber dem selbsternannten Gebieter im Hause – dem Intellekt – nicht massiv die Stirn bietet. Das ist schade, dürfte aber in unserer Evolution als Mensch zu einem immer komplexer werdenden Geschöpf in einer immer komplexer werdenden selbst gestalteten Welt begründet liegen.
Um jedoch in dieser komplexen Welt – im Außen wie im Innen – erfolgreich im Sinne von ausgeglichen und erfüllt leben zu können, müssen wir also den Wert des Ratschlags unseres tierischen Instinkts für die Notwendigkeit der Ruhe und des Rückzugs erkennen und würdigen. Dies fällt uns modernen Menschen offensichtlich immer schwerer. Die Herausforderungen der Pandemie bringen es nur noch stärker an den Tag, als es ohnehin schon seit Jahrzehnten sichtbar war. Der Geist erhöht die Drehzahl bei vielen Menschen immer weiter, die wahren Ruhezeiten nehmen immer mehr ab.
Das berühmte Rotieren des Geistes braucht jede Menge Energie
Die berühmten Unruhewellen oder Karussellbewegungen des Geistes – chitta vritti im Yoga Sutra – hören nicht mehr auf, sondern verstärken sich immer mehr. So lange, bis wir innerlich Stopp sagen. Freiwillig oder unfreiwillig. Eines vergessen wir dabei allzu leicht: Die Ruhephasen dienen nicht nur dem Selbstzweck des zur Ruhekommen des Geistes. Es ist vielmehr ein Mechanismus, energetisch und physiologisch zu regenerieren. In voller Aktion verbraucht unser Geist über 30% der zur Verfügung stehenden Energie in Form unseres Blutzuckers. Leider – muss man sagen – herrscht in unserer Zivilisation kein Mangel daran, den Blutzucker hoch zu halten. So entsteht das Gefühl, ewig „weiter drehen“ zu können. Doch der Schein trügt, denn allerlei physiologische Systeme, etwa auf der Ebene unseres Hormonhaushaltes, geraten bei diesem grenzenlosen Drehen des Gehirns aus den Fugen. Die Folgen davon sind vielfältig und tragen maßgeblich zu mancher sogenannten Zivilisationskrankheit bei.
Wollen wir herausfordernde Zeiten möglichst unbeschadet überstehen, müssen wir also diesem „tierischen Instinkt“ des inneren Ruhebedürfnisses folgen und etwas tun – und zwar nicht im Außen, sondern primär an uns und in uns selbst. Hier kommen die Techniken der Yogatraditionen ins Spiel: Entspannungsübungen, Atemübungen und Meditationstechniken. Das Gehirn entspannt und regeneriert sich eben nicht vor einem Bildschirm – nicht einmal bei einer langweiligen Sendung. Es wird im besten Fall eingelullt – Die Yoga-Weltsicht spricht von Tamas oder dunkler Trägheit. Im schlechtesten Fall wird er noch weiter aufgedreht, wenngleich vielleicht hinsichtlich anderer Aspekte als im Alltag, weshalb es sich anfühlt, als würde man Abstand gewinnen. Das ist, was die Yoga-Philosophie Rajas nennt, die feurige Aktivität des Geistes. Doch das reicht nicht. Was unser Gehirn braucht, ist nachhaltige regelmäßige, tägliche Regeneration in innerem Gleichgewicht und innerer Leichtigkeit. Im Yoga wird dies als Sattva bezeichnet, die lichtvolle Leichtigkeit im Sein.
Yogatechniken – nicht nur für die Transzendenz, sondern auch für ein gutes „normales“ Leben
Auch wenn Yoga ursprünglich als spirituelles System entstanden ist, das Ego zu transzendieren und mit dem universellen Bewusstsein zu verschmelzen – und damit vor allem von entsagenden Menschen geübt wurde – gab es auch schon immer das Konzept de „Haushälters“ im kulturellen Kontext, der dem Yoga zu Grunde liegt. Haushälter sind mitten im Leben stehende Menschen, wie Du und ich, die ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen, in der Familie und im größeren sozialen Verband leben und wirken. Auch für diese im Leben aktiven Menschen, wurden die Techniken des Yoga schon immer von ihren spirituellen Lehrern „verschrieben“. Und zwar zum Zwecke, dieses aktive Leben bestmöglich zu unterstützen und dennoch einen Bezug zum größeren Ganzen des Universums herzustellen. Auch dies ist ein Aspekt des Hörens auf unseren Instinkt für Ruhe, denn unsere persönliche Verbindung zu dem was größer ist, als das Ich finden wir zuvorderst in Regeneration und Sattva.
Hörst Du die Stimme?
Der erste Schritt dahin beginnt mit der einfachen Frage: Höre ich die Stimme meines Instinkts des Ruhebedürfnisses? – Du sagst ja? – Na, dann denk nochmal drüber nach, bevor du Dir den nächsten Kaffee aus dem Automaten oder der Kaffeekanne holst, die Tasse Schwarz- oder Grüntee an die Lippen setzt oder Dir den Energie-Drink einflößt. Wie wäre es stattdessen mit einer Einheit Yoga Nidra, einer Atempause oder einer Meditationsübung?
Nur so ein Gedanke – aber der verschwindet gleich wieder in einer Regenerationspause als Moments des süßen Nichtstuns im bewussten Atmen in der Sonne auf der Terrasse draußen. Viel Freude beim Nachmachen.
Herzlichst,
Euer Michael