Unzufriedenheit – Woher kommt diese eigentlich? Was kann man gegen sie tun?
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Von Michael Nickel
Unzufriedenheit ist ein heißes Eisen. Sie breitet sich in schwierigen Zeiten aus wie eine Infektion, langsam und kriechend und bringt ihre fiese Schwester mit, die Empörung. Moment mal! Sage ich hier etwa, dass es schlecht ist, unzufrieden zu sein und sich zu empören? – Nein, nicht wirklich! Und: Ja, in gewisser Weise schon. Wie kommt eine solche ambivalente Aussage über Unzufriedenheit und Empörung zustande?
Wir müssen uns klar sein, dass alles, dem wir in diesem Universum begegnen, zwei Seiten hat. Allem in dieser Welt wohnen im Kern schlummernd konstruktive und nicht-konstruktive, um nicht zu sagen destruktive, Aspekte inne. Ob sich das konstruktive oder das nicht-konstruktive manifestiert ist eine Frage des Bewusstseins, mit dem etwas verbunden ist. In Punkto Unzufriedenheit und Empörung ist es also unser eigenes Bewusstsein, von dem wir hier sprechen. Der erste Punkt ist also, dass es davon abhängt, welchen Grad an Klarheit und Bewusstsein wir über unsere Unzufriedenheit und die daraus resultierende Empörung haben. Dies beeinflusst, ob sich daraus ein konstruktives oder ein nicht-konstruktives Resultat ergibt.
Der zweite Punkt, über den wir uns im Klaren sein müssen: Der erste Adressat unserer Unzufriedenheit und Empörung sind immer wir selber! Dementsprechend tragen wir als erste die konstruktiven oder nicht-konstruktiven Konsequenzen unserer Unzufriedenheit und Empörung. Erst danach und oft erst sehr viel später und meist auch sehr viel abgeschwächter trifft unser Ausdruck unserer Unzufriedenheit und Empörung den Adressaten im Außen, von dem wir denken, dass ihm unsere Gefühle gelten … Wenn das nicht ein Grund ist, sich über Punkt eins etwas mehr Gedanken zu machen: Wenn ich über den Grad der Bewusstheit meiner Unzufriedenheit beeinflussen kann, wie konstruktiv oder destruktiv die Konsequenzen sind, dann trage ich als erster Adressat auch nur jene Konsequenz, welche aus meiner Bewusstheit resultiert.
Bist Du Dir der Quelle Deiner Unzufriedenheit bewusst?
Also mal ganz ehrlich: Bist du Dir vollkommen bewusst, worüber du unzufrieden bist? – Sicher wird dir jetzt spontan etwas einfallen und du wirst ja sagen. Doch wenn ich dich nun bitte, nochmals darüber nachzudenken, ob dem, was du eben ausgedrückt hast nicht noch eine tiefere, viel grundlegendere Ursache für deine Unzufriedenheit zu Grunde liegt, dann wirst du, nachdem du in dich spürst und reflektierst, auch eine allgemeinere und damit fundamentalere Ursache finden. Was heißt das? – Es bedeutet wiederum zweierlei: erstens, werden wir sehr viele Schritte in die Tiefe gehen können und dabei die Ursachen unserer Unzufriedenheit immer mehr auf den Punkt bringen, ein Punkt jedoch, der viel Allgemeiner ist als das, was wir zu Beginn dachten. Zweitens wird daraus klar, dass es nichts gegen unsere Unzufriedenheit bringt, wenn wir dem erstbesten Anzeichen für die Ursache unserer Unzufriedenheit folgen. Warum? – Ganz einfach, weil die Beseitigung der oberflächlichen Ursache lediglich unsere Unzufriedenheit oberflächlich für meinige Zeit abschwächt. Sie kommt jedoch mit aller Macht nach kurzer Zeit (oder auch sehr kurzer Zeit) aus den tieferen Schichten der Ursachen zurück. Wir können also nur „verlieren“, wenn wir immer nur spontan unserer Unzufriedenheit folgen und ihr unmittelbar Ausdruck verleihen.
Heißt das, wir sollen unsere Unzufriedenheit permanent schlucken und gar nichts tun? – Nein ganz sicher nicht, denn das ist unzweifelhaft auf psychischer und psychosomatischer Ebene giftig. Allerdings können wir aus dem Teufelskreis nach und nach ausbrechen, indem wir wir zwei Dinge tun: erstens, reflektieren und nochmals reflektieren, wo unsere Unzufriedenheit herkommt – und noch wichtiger: Zweitens, herausfinden, womit wir selber die Welt ein bisschen besser machen können in der jetzigen Situation, die unsere Unzufriedenheit „auslöst“. Also ganz konkret: Was kann ich konstruktiv zu einer Welt beitragen, in der ich zufriedener sein kann.
Oft ist es gar nicht möglich, auf die Auslöser unserer Unzufriedenheit direkt einzuwirken. Viele merken das derzeit mit schmerzvoller Wucht. Die Reaktion ist Opposition und Protest – der lautestmögliche Ausdruck unserer Empörung. Dies mag nötig sein, um Veränderungen zu triggern, aber seien wir uns doch völlig klar darüber, dass dies immer zunächst destruktiv ist. Es muss etwas zerstört werden, um Platz für Neues zu schaffen. Hier geraten wir in die Zwickmühle: fokussieren wir uns nur auf diese Aspekte von Zerstörung von dem, was vermeintlich unsere Unzufriedenheit auslöst, werden wir zum Gefangenen in diesem Prozess. Selbst wenn sich irgendwann etwas aufgrund unseres „Dagegenseins“ ändert, hat uns bis dahin längst das nächste Thema getriggert und wir sind wieder in der Unzufriedenheitsfalle. Wie kommen wir da also heraus? Ist es nicht aussichtslos? Ganz im Gegenteil.
Aus der Unzufriedenheitsfalle ausbrechen
Diese Situation bietet uns eine große Chance zu wachsen. Die Yoga-Philosophie und ganz besonders die Bhagavat Gita und das Yoga Sutra bietet uns eine Vielzahl von Wegen, mit uns ins Reine und damit aus der Unzufriedenheitsfalle zu kommen. Man kann sich einen Weg heraussuchen, aber auch Wege „kombinieren“. Für mich persönlich stehen zwei Wege im Vordergrund, die ich persönlich beschreite: Der erste ist der Weg des Handelns, auch bekannt als Karma Yoga. Der zweite ist der Weg der Meditation und der Kontemplation, auch bekannt als Raja Yoga.
Der Weg des konstruktiven selbstlosen Handelns
Auf dem Weg des Handelns geht es ums konstruktive Handeln wohlgemerkt! Also ganz konkret, zu einer positiveren Welt beizutragen, ohne dass ich direkt etwas davon habe. Das kostenlose Agni Magazin mit all der verbundenen Arbeit ist ein Teil davon, ebenso wie die Bücher im Agni Verlag, die jedes für sich eine positive, konstruktive Botschaft der alten Meister in unsere Zeit und unsere Gesellschaft katapultiert, wo sich die positive Wirkung entfalten kann. Und weil mir seit Kindheit an unsere Natur und Umwelt am Herzen liegt, läuft alles im Agni Verlag klimapositiv ab, nicht nur klimaneutral. Wir investieren in Aufforstungsprojekte weltweit zur Überkompensation unseres CO2-Fussabdrucks. Und gleichzeitig unterstützen wir mit jedem Buch das BuchenUrwald-Projekt von Wohllebens Waldakademie, weil es uns wichtig ist, dass auch unsere Nachkommen noch möglichst „naturnahe“ oder noch besser „natürliche“ Wälder durchwandern können, nur um sich daran zu erfreuen. Diese Aktivität hilft mir, Zufriedenheit zu finden, ohne dass es mir einen unmittelbaren persönlichen äußeren Nutzen bringt. Oder yoga-philosophisch ausgedrückt: dadurch erreiche ich „Santosha“ – was zufällig, oder auch weniger zufällig, mein spirituelle „Yogi-Name“ ist, der mir vor Jahren gegeben wurde.
Der Weg von „Yoga„: Meditation und Kontemplation
Auf dem Weg der Meditation und der Kontemplation finden wir in die innere Stille, jenseits all unserer Unzufriedenheit. Dies ist der herausfordernde Weg, denn er konfrontiert uns mit den Ursachen all dessen, womit wir uns in der Welt reiben, womit wir kämpfen. Es ist aber auch ein Weg der höchsten Belohnung: weil er uns zumindest zeitweise in einen Zustand bringt, in dem all das keine Rolle mehr spielt. Die Yoga-Philosophie und insbesondere das Yoga Sutra benennt auch „all das“. Hier kommen wir zu den wahren und tiefsten Gründen unserer Unzufriedenheit: Die Kleshas oder zu Deutsch Bedrängnisse und Plagen, die allen Menschen gemeinsam sind, die aber bei jedem Menschen einen anderen, ganz persönlichen Ausdruck finden. Unsere persönliche Unzufriedenheit und die resultierende Empörung, von denen wir zuvor gesprochen haben, sind eine Konsequenz davon.
Wie unsere „Peiniger“ unser in Unzufriedenheit hineinmanövrieren
Was sind die Kleshas? Dies ist ein ausuferndes Thema, doch kurz gesagt beginnt es damit, dass wir uns ausschließlich mit Aspekten der Welt und von uns selbst identifizieren, die keinen dauerhaften bestand haben. Diese falsche Identifikation führt zu einer Weltsicht, in der Dinge als unveränderbar angesehen werden, die sich dann doch irgendwann ändern, sei es durch das unaufhaltsame Altern, durch Naturkatastrophen, Pandemien oder auch ganz triviale kleine Dinge im Alltag. Diese unkorrekte Weltsicht oder dieses „falsche“ Wissen ist der erste Klesha und wird „Avidya“ genannt.
Aufbauend auf Avidya entsteht aus dessen Weltsicht unsere Selbst-Identität oder das Gefühl vom Ich-Sein oder der Ich-Heit, was im Yoga Sutra „Asmita“ genannt wird. Abgesehen davon, dass Asmita auf dem extrem schiefen Fundament von Avidya aufbaut – also der fehlerhaften Sicht über das was Bestand und keinen Bestand hat – brauchen wir einen solchen Mechanismus der Abgrenzung nach Außen, wenn wir in der Welt funktionieren wollen. Zum Problem wird Asmita erst dann, wenn es den Situationen in denen wir stecken nicht angepasst ist. Dann entsteht Reibung und Unzufriedenheit.
Dies beginnt schizophrener-weise zunächst mit etwas gefühlt positivem. Nämlich, dass wir etwas „toll“, „schön“ oder „anziehend“ finden, also eine Zuneigung zu etwas entwickeln. Unter dem Einfluss von Avidya und Asmita sehen wir das Objekt der Zuneigung als etwas an, das unbedingt Bestand haben muss! Eine solche Zuneigung hat starke Züge von Anhaftung und wird vom Yoga Sutra als „Raga“ bezeichnet. Wäre vielleicht nicht so schlimm, wäre da nicht das Zwillingsgeschwister „Dvesha„, die Abneigung! Abneigung ist eine unmittelbare Konsequenz aus Raga und den beiden zu Grunde liegenden Kleshas: unser Selbstbild (also Asmita) und unser schiefes Weltbild (also Avidya).
Die Grundlage all unserer Ängste hat einen Namen und eine Ursache
Was ist das Resultat von diesen ersten vier Kleshas oder Plagen? Der fünfte Klesha, oder die Mutter von all unseren irrationalen Empfindungen und Handlungen, inkusive der zuvor genannten Unzufriedenheit und der Empörung. Das perfide Zusammenspiel von schiefem Weltbild (Avidya), aufgeblasener Selbstwahrnehmung (Asmita), uneingeschränkte Anhänglichkeit an die einen Aspekte der Welt (Raga) und die fundamentale Ablehnung anderer Aspekte der Welt (Dvesha), schürt unterschwellig die Angst, dies alles zu verlieren! Ja, wir hängen an all dem! Das heißt unser Raga ist so stark, dass wir unsere schiefe Weltsicht lieben, erst recht unser Selbstbild oder Ego, aber auch unsere Abneigungen und Ablehnungen! Selbst diese negativen Aspekte, also die Zielscheibe unserer Ablehnung, fürchten wir zu verlieren! Denn ohne dieses abgelehnte „Andere“ scheint unser Selbstbild und Weltbild nicht komplett. Wir sind also mit einer immer größer werdenden Angst konfrontiert, alles zu verlieren, was uns lieb und teuer ist und was uns definiert. Weil der Tod der finale Verlust ist und jeder Teilverlust „ein kleiner Tod“, wird diese Angst als „Abhinivesha“ bezeichnet, die Furcht vor dem Tod.
Meditation ist der Ausweg
Du bist von den Ausführungen über die Kleshas verwirrt? Kein wunder, denn die Kleshas SIND Verwirrung! – Wie entwirren wir uns dann? – Die Antwort des Yoga Sutra ist kurz und bündig: indem wir in den Zustand von Yoga kommen, den Zustand, in dem unser Geist friedlich und einpünktig-fokussiert fließt. Wie kommen wir da hin? In dem wir üben – und damit sind jetzt nicht primär Asanas gemeint, sondern das, was wir heute als „Meditation“ bezeichnen. Asanas sind sozusagen das angenehme und nötige Vorspiel zur Meditation. Meditation oder der Zustand von Yoga manifestiert sich durch langfristiges nachdrückliches Üben, indem wir das Üben selbst zu einem wichtigen und geschätzten Bestandteil unseres Lebens machen. Solches Üben nennt das Yoga Sutra „Abhyasa“ – „Die Praxis“. Meditation braucht aber noch eine Zutat: Gelassenheit oder liebevollen Gleichmut. In anderen Worten: die Akzeptanz des Ist-Zustandes im Wissen und Vertrauen, dass dieser Zustand „unbeständig“ ist, also vergänglich. Ganz egal ob wir den Zustand mögen (Raga) oder uns an ihm reiben (Dvesha). Finden wir unabhängig davon in liebevollen Gleichmut, verlieren wir unsere Anhaftung und Praktizieren „Nicht-Anhaftung“ oder „Vairagya„, wie es das Yoga Sutra nennt. Dies führt uns tiefer in die Meditation.
Vishoka: der Zustand jenseits allen Leides
Was geschieht nun in der Meditation? Wir lassen nach und nach unsere „Welt der Kleshas“ hinter uns. Sie verblassen sozusagen angesichts dessen, was wir im Inneren finden: unseren Ruhepol, die Quelle unseres Seins, die frei ist von all diesen verwirrenden Eigenschaften der Kleshas. Ein eigenschaftsloser Zustand sozusagen. Daher bezeichnet der Buddhismus diesen Zustand als Nirvana (das Nichts) oder Shunyata (die Leere). Weil man einen solchen eigenschaftslosen Zustand schwerlich mit positiven Eigenschaften beschreiben kann, geht das Yoga Sutra den umgekehrten Weg: es definiert diesen Zustand als Abwesenheit von etwas, nämlich die Abwesenheit von Leid oder Sanskrit „Shoka„! In der Meditation können wir also in einen Zustand jenseits des Leids und des Schmerzes finden, daher wird dieser Zustand „Vishoka“ genannt: „frei von Leid“. Diesen Zustand mit Genuss zu erfahren – und sei es noch so kurz – hat eine nachhaltige Wirkung! Und hier kommen wir zurück zu unserem Aspekt der Unzufriedenheit.
Wenn wir aus der Meditation zurück kommen, dann sind wir nicht so eigenschaftslos, wie in der Meditation, aber das Nachspüren, der Erfahrung unserer inneren Essenz, die frei ist von Kleshas und Co, erlaubt uns, für einige Zeit zentriert in uns zu Ruhen, die Verbindung zur „reinen Freude, am Leben zu sein“ zu spüren – ohne Erwartungen an das Leben selbst oder wie es zu sein hat! Darin ergibt sich eine Bewusstheit und eine Klarheit zu allem, was uns im Leben begegnet. Wir sehen unser Leben also aus einer anderen Perspektive. Diese Perspektive erlaubt uns konstruktiv in der Welt zu handeln.
Wie mir meine Meditationspraxis hilft
Mir persönlich hilft meine Meditationspraxis meinen Weg des Handelns konstruktiv zu beschreiten. Sie hilft mir auch, meine Begrenztheit zu sehen und die Begrenztheit der Menschen um mich herum. In diesem Kontext werden meine Ansprüche kleiner und zugleich wird deutlicher, was wirklich wichtig ist auf dem persönlichen Weg des Handelns. Das kann dann auch damit zu tun haben, „gegen etwas zu opponieren“, aber immer verbunden damit, mich gleichzeitig „für etwas konstruktiv einzusetzen“. Und dieses Etwas muss konkret sein, selbst wenn ein abstraktes Konzept zu Grunde liegt.
Und jetzt kommst Du!
Die Frage an Dich lautet also: Wie kannst Du Dein Zentrum finden und aus dessen Perspektive konstruktiv in der Welt wirken mit ganz konkreten Handlungen, die zumindest einen großen Anteil von Selbstlosigkeit in sich tragen? Ich kann Dich nur immer wieder ermuntern: mach den ersten Schritt und beginne Deinen Weg zu Yoga und Meditation – oder richte Dich immer wieder neu aus, wenn Du auf diesem Weg bist und das Gefühl hast, dass die Unzufriedenheit und die Empörung immer wieder überkocht, ohne, dass Du einen konstruktiven Weg findest, damit umzugehen. Yoga bietet uns alle Werkzeuge, die wir benötigen, um in Punkto Unzufriedenheit den Spieß umzudrehen und etwas Konstruktives daraus zu machen.
Einen Einstieg in die Meditation nach Yoga Sutra 1.36, die Erfahrung des Ruhens in der inneren Essenz des reinen Bewusstseins, jenseits aller Sorgen und jenseits allen Schmerzes, bietet das Buch “Vishoka-Meditation” von Pandit Rajmani Tigunait, das 2020 im Agni-Verlag erschienen ist. Mehr zum Thema findest du in seinem Buch “Das Geheimnis des Yoga Sutra – Samadhi Pada”, das 2019 im Agni Verlag erschienen ist. Wenn du nach praktischen Anleitungen suchst, findest Du einen Link zu zugehörigen Audio-Downloads im Buch “Vishoka-Meditation”. Zusätzlich bietet Michael Nickel, der Autor dieses Beitrags und Gründer-Verleger des Agni Verlag, Yoga- und Meditations-Kurse und -Stunden, die Dich in die Ruhe führen. Alle Kursangebote von Michael laufen auch online. Siehe www.santosha-yoga.de für weitere Infos.