Konstruktives positives Denken ist weder Weltflucht noch irrationale Schönfärberei – sondern ein wertvolles Hilfsmittel
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Von Michael Nickel
Wir leben in wahrlich schrägen Zeiten! Mitten in der Pandemie, die für jeden Herausforderungen mit sich bringt, und manche an den Rand von psychisch und/oder ökonomisch Ertragbaren führt, entspinnt sich in den sozialen Medien und in etlichen spirituell geprägten Webseiten und Blogs eine Diskussion, die mit dem positiven Denken und den positiven Wirkungen von Meditation und Co hart ins Gericht geht. Und wie beinahe immer stammt der Trend dazu aus den USA, wo sich die spirituelle Szene in den letzten Monaten durch Pandemie, zunehmenden Rassismus und die Ereignisse rund um die Präsidentschaftswahl noch stärker polarisiert hat als hierzulande. Dennoch ist der Tenor oft derselbe und er wird durch viele Beiträge in den sozialen Medien weitergetragen. Der Vorwurf lautet, dass viele, die inmitten der Krise positives Denken propagieren, zu gut neudeutsch „spiritual bypassing“ betreiben und „toxic positivity“ verbreiten.
Im letzten Jahr ist über diese Phänomene auch in Deutschland viel diskutiert worden, doch leider oft, ohne die Kinder bei ihrem deutschen Namen zu nennen: Schauen wir es doch einmal nüchtern an. Das, was als „spiritual bypassing“ bezeichnet wird, ist nichts anderes als Weltflucht und „toxic positivity“ ist irrationale Schönfärberei. Beides sind Themen, die es schon immer gab und sie betreffen nicht nur die spirituelle Szene, sondern sind – wie auch die „Schwarzmalerei“ – menschliche Tendenzen, die wir in der einen oder anderen Form zu jeder Zeit in unserer Gesellschaft finden. Das positive Denken, welches in den Yoga-Traditionen propagiert wird und wie es etwa von Swami Sivananda, Swami Rama und anderen in den Westen getragen wurde, hat jedoch wenig mit Weltflucht oder Schönfärberei zu tun. Vielmehr wird das positive Denken im Yoga als psychologisches Hilfsmittel benutzt, um inneren und äußeren Widerständen und Herausforderungen konstruktiv zu begegnen.
Letzte Woche haben wir die im Netra Tantra genannten 14 psychischen Zustände, die uns die Lebensenergie rauben, betrachtet. Wer einmal im Strudel dieser Zustände gefangen war, der weiß, dass sie einem nicht viel Raum für Positivismus lassen. All zu viele Menschen befinden sich derzeit bereits in solchen Strudeln oder am Rande davon, bereits im Sog. Es ist wichtig, anzuerkennen, wo wir stehen. Es ist wichtig, der Dunkelheit ins Auge zu sehen, sich den düsteren Fratzen in uns selbst zu stellen. Es ist auch wichtig, mit anderen darüber zu reden, sich konstruktiv auszutauschen. Doch müssen wir uns dabei immer der Eigendynamik der „dunklen Macht“ erinnern! Nicht umsonst wurde dies in „Star Wars“ thematisiert – als Abklatsch unzähliger epischer Vorbilder in der Weltliteratur, der Mythologien und Märchen der Welt, die alle von der Versuchung sprechen, sich den Abgründen des Menschseins hinzugeben.
Soziale Medien: Hort der Kaskade von Missverständnissen
Im persönlichen Kampf mit misslichen Lebensumständen ist es unvermeidlich, dem eigenen Leid ins Auge zu sehen und dem auch in seinem Umfeld Ausdruck zu verleihen. Indem wir uns an etwas reiben, finden wir Wege und Lösungen – oft im Gespräch mit anderen. Im 21. Jahrhundert gewinnt dies jedoch eine ganz andere Dimension. Machen wir uns das vollkommen klar! Wenn der erste Impuls unseres Reibens mit der Umwelt und uns Selbst – oder yogisch ausgedrückt, unser Kampf mit den Konsequenzen der Kleshas – uns dazu führt, einen ätzenden Post in den sozialen Medien abzusetzen, was geschieht dann? – Das folgende „Gespräch“, in Form überstürzt auf die Handy-Tastatur gehuschter „Re-Aktionen“, auf das angeätzte Thema, entspinnt sich in völliger Unkenntnis des Kommunikations-Modells der „Vier-Ohren“ von Schulz von Thun und führt regelmäßig zu einer Kaskade der Missverständnisse, welche – im Gegensatz zu einem Gespräch mit einem realen Freund – das bestehende Gefühl von Problem, Ärger, Zorn und Verzweiflung nur noch verstärken. Mit der zu Grunde liegenden Realität – was immer das im philosophischen Kontext auch sein mag – hat das Resultat und die Entwicklung in den sozialen Post-Kaskaden dann nach und nach wenig bis gar nichts mehr zu tun.
Eine fundamentale Erkenntnis
An dieser Stelle kommt das konstruktive positive Denken aus der Yoga-Philosophie ins Spiel. Und wir beginnen mit einer einfachen – und doch immer wieder verblüffenden – Feststellung aus dem zweiten Buch des Yoga Sutra:
„Schmerz, der noch nicht eingetreten ist, kann abgestellt werden.“
Yoga Sutra 2.16
Patanjali, der Autor des Yoga Sutra, bring damit zum Ausdruck, dass sich das Rad des Karma unablässig dreht und alles, was wir tun, jede unserer Handlungen, unserer Aktionen und Re-Aktionen Konsequenzen hat – die gegebenenfalls leidvoll sind, entweder für uns oder für andere. Das, was uns heute schmerzt, lässt sich zwar nicht mehr vermeiden, aber wie wir auf den Schmerz im Heute reagieren, eröffnet die Möglichkeit, weiteres resultierendes Leid erst gar nicht aufkommen zu lassen. Was heißt das dann, bezogen auf den oben genannten ersten Impuls, die Nachricht über unser persönliches Leid per Post auf Facebook und Whatsapp in unsere soziale Umgebung zu verbreiten? – Ich sag es mal so: Wäre Yoga Sutra 2.16 öfter im Hinterkopf, wären die sogenannten sozialen Kanäle weniger asozial und damit auch weniger aufregend, in jeglicher Hinsicht. Es gilt halt doch oft: „in sozialen Netzwerken spontan geteiltes Leid ist doppeltes Leid.“
Perspektivwechsel à la Yoga
Wenn wir also zukünftigen Schmerz vermeiden wollen, brauchen wir eine Strategie, um mit unserem derzeitigen Schmerz – dem was uns psychisch und emotional umtreibt – anders umzugehen, als wir das derzeit tun. Genau hier kommen wir zu einer der kraftvollen konstruktiven Strategien des positiven Denkens aus der Yoga-Philosophie. Und wieder steht sie im Yoga Sutra – aber nicht nur dort.
„Um konfliktreiche Gedanken zur Ruhe zu bringen, kultiviere Gedanken, die diesen entgegengesetzt sind.“
Yoga Sutra 2.33
Was sich zunächst vielleicht wie eine Vermeidungsstrategie im Sinne von „spiritual bypassing“ anhört – „Denk doch einfach das positive Gegenteil, Mensch! Dann geht’s leichter!“ – entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine fundierte Übung, die der klassischen Selbstreflexion, dem yogischen Vichara, zuzuordnen ist. Tatsache ist nämlich, dass es weniger einfach ist, als es aussieht, einen entgegengesetzten Gedanken zu formulieren. Denn was ist die Voraussetzung dafür? – Wir müssen uns erst einmal glasklar bewusst machen, was wir da eigentlich denken. Und zwar nicht im Sinne von schwarz versus weiß, gut versus schlecht, positiv versus negativ, nein, sondern in allen Grasschattierungen und Farbnuancen. Das erfordert, dass wir uns ernsthaft mit unseren eigenen Gedanken auseinandersetzen, sie erkunden und dann all dem, was daran konfliktreich ist, etwas präzise Entgegengesetztes als Gedanke entwickeln. Es mag sein, dass wir dabei ein herrlich strahlendes und utopisches Bild von uns selber und der Welt entstehen lassen, doch das ist nicht das Wesentliche, denn dann wäre es vielleicht wirklich eine Art mentale Weltflucht. Das Wesentliche ist der Prozess, der dabei abläuft. Wir reflektieren, relativieren, ordnen ein, wechseln die Perspektive und finden dann einen gedanklichen Kontext, der es uns erlaubt, mit dem, was uns plagt konstruktiv, umzugehen und daraus so zu handeln, dass Yoga Sutra 2.16 erfüllt wird.
Ich stelle nochmal die Frage: Wie würden unsere sozialen Medien, unsere Kommunikation mit unseren Familien und Freunden und auch unsere Selbstgespräche aussehen, wenn wir mit diesen beiden Sutras ernsthaft durchs Leben gehen würden? – Genau dafür benötigen wir konstruktives, positives Denken. Es ändert erst mal nicht die Situation, aber es ändert, wie wir mit unseren Situationen, der inneren und äußeren Dunkelheit und den Zuständen, die uns den Lebenssaft rauben, umgehen.
Die Augen öffnen, um konstruktiv und positiv an uns zu arbeiten
Einen Nachteil hat die Kombination dieser beiden Sutras natürlich: Man kann sich weniger gut im eigenen Leid suhlen! Ich weiß, das hört sich zynisch an. Ist es aber nicht. Als jemand, der die Wucht eines Burnouts vor Jahren erlebt hat, weiß ich – wie viele andere auch – welche Tendenzen wir Menschen in uns tragen können. Der „leidende Teil in uns“ möchte nicht im Unrecht sein! So wie kein Teil von uns sich jemals gerne eingesteht, eine Sicht auf die Welt zu haben, die sich als nicht haltbar entpuppt. Darum versucht alles in uns, Bestätigung zu finden – und sei es Bestätigung dessen, was leidvoll ist. Und genau diese Tendenz macht das Wort pratipaksha – „das Gegenteil; das Entgegengesetzte“ – in Yoga Sutra 2.33 so wertvoll. Es erlaubt uns, die Perspektive zu wechseln, ohne dass es um richtig oder falsch geht. Es geht lediglich darum, eine andere Sichtweise zu experimentieren und diese Wirken zu lassen. Und weil das Ergebnis dieser Übung von Yoga Sutra 2.33 ein originärer eigener Gedanke ist, fällt es dem Teil in uns, der sich gerne weiter suhlen möchte, eben nicht mehr so leicht. Das ist die Macht des konstruktiven positiven Denkens. Es ist weder Flucht noch Schönfärberei. Es ist ehrliche Arbeit in uns und an uns selbst.
Probier es mal aus. Es verändert Deine Realität.
Viel Freude damit.
Herzlichst Dein
Michael