Das Geheimnis der Yoga Sutras – Interview mit Pandit Rajmani Tigunait (Teil 3)
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Fortsetzung: Pandit Rajmani Tigunait im Interview über die Yoga Sutras, seinen Kommentar, seine Kurse und die Mission des Himalayan Institute.
Interviewfragen von Michael Nickel
Im vorigen Teil des Interviews erzählt uns Panditji, wie er durch seine Familie und Lehrer eine sehr persönliche Beziehung zum Yoga Sutra aufgebaut hat. Oder springe zum esrten Teil des Interviews.
Die Yoga Sutras sprechen ausführlich über, „Erleuchtung“, Samadhi. Könnten Sie uns dieses Konzept erklären? Was ist Samadhi?
Samadhi ist ein absolut erholsamer Zustand des Geistes. Ein völlig reiner, stiller, stabiler mentaler Zustand, in dem der Geist ungestört und unbeeinflusst ist durch seine eigenen Samskaras und Vasanas – also seine subtilen Eindrücke, Tendenzen, Modifikationen und Gedanken-Konstrukte, die durch diese Samskaras erschaffen werden. Das also wird Samadhi genannt. Weil wir in diesem Zustand mental so rein, so vollständig ausgerichtet und still sind, dass das reine Bewusstsein, das in dir ist und das du bist, den reinen Geist reflektiert. Die Reinheit des Geistes und die Reinheit des Bewusstseins sind völlig gleich, die beiden spiegeln sich also gegenseitig. Dieser Zustand ist Samadhi.
Nun, das ist eine Definition vom Standpunkt aus, Samadhi als Bestimmungsort zu sehen. Allerdings gibt es auch einen Prozess, der dich zu diesem Zustand führt und dieser Prozess wird ebenfalls Samadhi genannt. Der Prozess durch den wir den Zustand von Samadhi erreichen nennen wir Niederes Samadhi. Wo wir durch diesen Prozess hin gelangen, diesen Zustand nennen wir Höheres Samadhi.
Die Yoga Sutras nennen Dharana und Dhyana, Konzentration und Meditation – die wir beide als Niederes Samadhi zusammenfassen – und eben das sogenannte Samadhi, der Zustand vollständiger spiritueller Absorption. Diese drei gemeinsam beziehen sich auf einen kontinuierlichen Prozess. Es ist ein Kontinuum, kein stufenförmiges, sprunghaftes Phänomen. Es ist also nicht von hier bis da Konzentration, von da bis dort Meditation und ab dort dann Samadhi, es ist ein kontinuierliches, übergangsloses Fortschreiten durch immer weiter verfeinerte Zustände.
Wenn wir unsere Meditation beginnen, sehen wir uns mit den herumschweifenden Tendenzen unseres Geistes konfrontiert. Wenn wir weiter üben, bemerken wir, dass unser Geist ein klein wenig ruhiger geworden ist. Wir sind mental aufmerksamer, unser Geist beginnt seine eigene innere Leuchtkraft zu verstehen und seine eigenen versteckten Tendenzen. Unser Geist erlangt die Klarheit und Stärke, diesen herumschweifenden Tendenzen zu begegnen und sie zu bändigen. Wenn der Prozess fortschreitet, erreichen wir immer mehr Reife in unserer Praxis. Dann beginnt eine Zeit, in der unser Geist sehr ausgerichtet, fokussiert, viel reiner, sehr viel transparenter und sehr viel stabiler ist.
Schlussendlich kommt eine Zeit, in der keine Gedanken-Konstrukte, keine Wahrnehmungen und keine Störungen und Ablenkungen mehr vorherrschen. Auch die subtilen Sorgen und Ursachen unserer herumschweifenden Tendenzen, wie zum Beispiel Angst, Ärger, Hass, Neid, Gier, Zweifel, usw., sind dann verringert. Dieser Zustand wird Samadhi genannt. Zusammengefasst heißt das, Samadhi ist ein Zustand und Niederes Samadhi ist ein Prozess. Was jede Praxis betrifft, beginnen wir immer mit dem Prozess und schlussendlich erreichen wir irgendwann den Zustand.
Im Yoga, wie er im Westen unterrichtet wird, werden aus den Yoga Sutras besonders die Yamas und Nyamas betont. Was ist Ihrer Ansicht nach das Wichtigste für Yogalehrer aus den Yoga Sutras?
Ich denke, heutzutage wird Yoga weltweit hauptsächlich als Asana verstanden. Wenn Asana nicht mit Pranayama und mit anderen Praktiken, wie Bandhas, Mudras, Meditation, usw., kombiniert wird, dann ist er definitiv unvollständig. Er ist dann nicht so effektiv, als wenn er von den übrigen Komponenten des Yoga begleitet wird.
Wenn es um die Botschaft des Yoga geht, werden die ersten beiden Ränge definitiv von den Yamas und Nyamas belegt. Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen, Nicht-Schwelgen, wie auch Nicht-Besitzergreifen, Reinheit, Zufriedenheit, Selbstdisziplin, Selbststudium und vertrauensvolle Hingabe an eine höhere Macht, diese zehn Komponenten der Yamas und Nyamas helfen uns, ein würdevolles menschliches Wesen zu werden. Durch sie kultivieren wir eine Sensibilität gegenüber unseren eigenen Gedanken und Gefühlen, wie auch gegenüber den Gedanken und Gefühlen von anderen. Wir werden also ein besserer Mensch. Und automatisch, durch das Praktizieren von Yamas und Nyamas, sind wir in der Lage, viele Ursachen unserer Ablenkung zu reduzieren.
Durch diesen ‚yogischen Lebensstil‘ erschaffen wir ein Umfeld in dem wir nicht mehr länger eine Bedrohung für andere darstellen und andere nicht länger eine Bedrohung für uns sind. Wir beginnen einerseits, in Frieden und Harmonie zu leben. Andererseits, durch die Anwendung dieser zehn Yamas und Nyamas, erlangen wir eine innere Umwelt, die die Ökologie unseres Körpers und unseres Geistes sehr fein ausbalanciert. Daher verschwinden auf diese Weise viele Ursachen unserer Ablenkungen, unserer Störungen und unserer Benommenheit. Genau das benötigen wir, zum Beispiel, um ein gutes und gesundes Familien- und Sozialleben zu führen. Auch im politischen Leben und in jedem anderen Berufsleben ist es sehr wichtig, dass wir liebevollere, nettere, sanftere, einfachere und aufrichtigere Personen werden. Das ist es, was uns die Yamas und Nyamas lehren. Das heißt, Yamas und Nyamas sind essentielle Bestandteile unserer Yoga-Praxis.
Und die Verbindung mit Meditation – dem vorher angesprochenen Prozess von Samadhi – hilft uns, Yamas und Nyamas im Alltag umzusetzen?
Völlig richtig!
Dieses Interview erschien zuerst in gekürzter Version im Yoga Aktuell 92 (2015). Das Buch, über das im Interview gesprochen wird, „Das Geheimnis der Yoga Sutras – Samadhi Pada“ ist im Frühjahr 2019 im Agni Verlag auf deutsch erschienen und ist über den Agni Verlag Webshop, über unseren Amazon-Verlagsshop und natürlich im lokalen Buchhandel erhältlich. Das Buch wird inzwischen in vielen Aus- und Weiterbildungen für Yoga-Lehrer eingesetzt und wenn Du ein Interesse an authentischer Yoga-Philosophie hast, ist dieses Buch eine tiefe Bereicherung und Inspiration für den Sucher in Dir.
Das Interview führte Michael Nickel. Fotos ebenfalls von Michael Nickel.