Dein persönliches Retreat im Alltag: Zeit und Raum für Rückzug und „Wellness“ schaffen
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Von Michael Nickel
Normalerweise beginne ich das Jahr damit, von Mitte Januar bis Mitte Februar für ein persönliches Meditationsretreat nach Indien zu reisen, mich an einem für mich persönlich ganz besonderen Ort zurückzuziehen, in mich zu gehen, mich zu sortieren und für das neu begonnene Jahr neu auszurichten. Dieser wortwörtliche Rückzug wird in diesem Jahr nicht möglich sein, aufgrund der weltweit angespannten Situation. Doch heißt das, ich muss auf mein Retreat verzichten?
Im Sinne des gewohnten Retreats ist es sicher ein Verzicht in diesem Jahr und damit geht es mir nicht anders als vielen anderen Menschen, die vielleicht nicht unbedingt auf ein Meditationsretreat reisen, aber auf jede Menge andere heiß ersehnte Arten des „Rückzugs aus dem Alltag“ verzichten müssen, sei es das Wellness-Wochenende unter Freundinnen, der Ski-Urlaub mit der Familie, das Familienwochenende bei den Großeltern oder auch nur die Stunde Klamotten-Shopping auf der Flaniermeile der Stadt. So trivial manches davon klingen mag, was immer wir nutzen, um von dem anspruchsvollen und vielleicht sogar belastenden Teil unseres Alltags Abstand zu nehmen, könnte man als Rückzug bezeichnen. In dieser Hinsicht sind unsere Möglichkeiten derzeit stark begrenzt, weil unsere Gewohnheiten ausgehebelt werden.
Retreat anstatt Flucht aus dem Alltag
Man kann nun natürlich ausweichen – und viele werden es tun – indem wir Rückzug auf den verbleibenden „Fluchtwegen aus dem Alltag“ suchen, indem wir Romane verschlingen, auf Mediatheken und Streaming-Dienste zugreifen oder stundenlang in den sogenannten Sozialen Medien verbringen. Das alles mag für uns wie ein Rückzug aus dem Alltag wirken, doch sobald es den Charakter des Nichtalltäglichen verliert, wird es zu einem Teil des Alltags und verliert damit den Charakter des „Rückzugs“.
Was wir also wirklich benötigen, sind Zeiten und Räume, die uns wirklich herausnehmen aus dem, was alltäglich ist. Zeiten und Räume, die den Fluss des alltäglichen aufbrechen und uns auf ihre Weise Expansion erlauben. Sei es körperliche Expansion, in der tiefes Atmen, körperliche Selbstwahrnehmung und physisches Erkunden neuer Orte möglich ist – oder mentale und emotionale Expansion, in der wir über den Tellerrand unseres begrenszten und oft stark eingeengten psychischen Bewegungs(spiel)raums weit hinausblicken und hinausschlendern können.
Eine Frage von Zeit und Raum
Das ist es, was ich einmal im Jahr für eine längere Zeit im Meditationsretreat erfahre, diese Expansion des Seins, weit über das hinaus, was uns im Alltag kennzeichnet und begrenzt. Dafür ist Zeit und Raum nötig, Zeit und Raum für Expansion. Doch verstehe dies nicht falsch: es ist nicht nötig, dafür nach Indien oder anderswohin zu reisen. Und es ist auch nicht unbedingt nötig, sich dafür einen Monat, eine Woche, ein Wochenende, ein Tag oder eine Stunde Zeit zu nehmen! Raum und Zeit für diese Erfahrung des Rückzugs und der Expansion in jeglicher Hinsicht über die Beschränkungen des Alltäglichen hinaus hängt von nichts anderem ab, als von uns selbst – es ist letztlich eine Frage unseres Vorsatzes, Raum und Zeit zu finden, oder besser, zu erschaffen, in der wir Rückzug und Expansion finden.
Dann kann ein solcher bewusster Rückzug aus dem Alltag geradezu aus dem Nichts von uns erschaffen werden, indem wir bewusst und achtsam einen Moment aus dem Alltag herausschneiden und uns einer einzelnen Sache widmen und uns selbst dabei wahrnehmen. Und sei es es so kurz wie einige bewusste, tiefe Atemzüge; der Blick aus dem Fenster auf den Himmel, die Wolken, einen Baum; Eine Tasse Tee, die wir mit allen Sinnen genießen; ein spontaner Spaziergang, bei dem wir uns auf unsere Wahrnehmung des Gehens und der Landschaft um uns herum besinnen; ein bewusster Tag oder ein Wochenende, an dem wir die alltäglichen Gewohnheiten beiseite legen und uns selbst – alleine oder gemeinsam mit der Familie – darauf einlassen, die Dinge für eine begrenzte Zeit anders zu machen, etwa ein Tag ohne soziale Medien und Film-Streaming, aber dafür mit Spaziergängen, Gesprächen, Spielen, besondere Koch- und Backsessions – oder was uns eben sonst so an weniger alltäglichen Aktivitäten einfällt.
Der unmittelbare und indirekte Lohn von Rückzug
Was ist der Lohn davon, sich einen solchen Rückzug aus dem Alltag zu schenken? – Je nach Art des Rückzugs kann die „direkte Belohnung“, die wir darin finden ganz unterschiedlich sein, doch abgesehen davon schenken uns Zeiten des Rückzugs immer auch zwei Dinge: Erstens, die Erfahrung, dass die im Alltag gefühlte Begrenzung unseres Seins nicht in Stein gegossen ist. Im Gefühl der Expansion im Nichtalltäglichen – besonders, wenn es mit einem kindlich, spielerisch-erkundenden Geist geschieht – finden wir den Geschmack von Lebendigkeit, der Geschmack der Kreativität, die uns Menschen als Geschenk gegeben ist. Und zweitens, lässt unser Geist in solchen Zeiten des Rückzugs den eisernen Griff los, mit dem er „unsere Probleme“ umschlungen hält und fest an sich presst. Dieses Loslassen ist ein wahres Geschenk, denn wenn man etwas fest an sich presst und eng umschlungen hält, nimmt man nur noch einen Teil dessen wahr, was man so eng an sich presst. Erst ein wenig Abstand erlaubt uns, etwas von allen Seiten zu sehen. Und verlieren wir es gar für einige Zeit – und sei sie noch so kurz – aus dem Blickfeld, so ist der erneute Sichtkontakt damit vielleicht sogar überraschend, weil wir uns vielleicht aus einer anderen Perspektive nähern. Eine Auszeit oder ein Rückzug schenkt uns also Perspektivwechsel.
Wahre Wellness
In dieser Hinsicht sind Auszeiten im Alltag wahre Wellness-Zeiten für unser ganzes Wesen. Was wir letztlich dafür brauchen ist der Entschluss, diese Auszeiten zu nehmen. Was uns wieder zu Sankalpa Shakti bring – der Kunst des guten Vorsatzes und der Umsetzung, über die ich vor zwei Wochen gesprochen habe. Warum also nicht heute den guten Vorsatz nehmen – und gleich umzusetzen – immer wieder Auszeiten aus dem Alltag zu nehmen, so wie sie jetzt gerade möglich sind, ohne „auf bessere Zeiten“ zu warten. Du hast alles dazu in der Hand, denn Du kennst Dich selbst gut genug dafür, du kannst den Willen dazu aufbringen und Du kannst es tun. Und so sind wir wieder beim Wissen oder Jnana Shakti, beim Willen oder Iccha Shakti und beim Handeln oder Kriya Shakti, die zusammen Sankalpa Shakti ausmachen. Auch dabei, sich selber aus dem Alltag bewusst und im positiven herauszunehmen.
Es gilt also auch für die Auszeit – egal ob großes Retreat oder kleine Auszeit im Alltag – das auf Sankalpa Shakti bezogene Zitat von Swami Rama:
»Ich werde es tun! Ich muss es tun! Ich habe jedes Mittel, es zu tun!«
Und zugleich auch :
»Du bist der Architekt Deines Lebens. Du entscheidest Dein Schicksal!«
Denn was sich so groß anhört beginnt im Kleinen. Dein Schicksal beginnt in jedem Augenblick neu. Welch besserer Beginn wäre wohl das Gefühl, das Gefühl von Begrenztheit einzureißen, indem Du Dir eine kleine Auszeit nimmst.
So, und genau das mache ich nun selber, bei einer Tasse Tee und dem Blick in den Garten.
Herzlichst, Dein
Michael