Jörn Roes: Im Grunde trägt die Yoga-Praxis der vergangenen Jahre jetzt Früchte

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Lesedauer 8 Minuten

Interview mit Jörn Roes

In welcher Form arbeitest Du mit Menschen?

Ich vermittle Yoga. Früher habe ich Yoga unterrichtet in der Annahme, ich würde etwas Körperliches unterrichten. Da kommen Menschen mit irgendeinem körperlichen Bedürfnis und ich schaue, dass sie sich danach besser in ihrem Körper fühlen. Natürlich ist das noch da, aber das ist komplett in den Hintergrund gerückt. Wenn Menschen zu mir ins Yoga-Studio kommen, schaue ich sie mir ganz genau an. Ich schaue, wie sie kommen, was da mitschwingt, wie bewegt der Mensch sich, wie spricht er zu mir, was sagen Mimik und Gestik. Ich klopfe alle Ebenen ab. Ich spüre in die Gruppe hinein, was liegt für eine Energie im Raum. Und darauf aufbauend, gestalte ich die Idee, die ich mitbringe in die Stunde. Aber das ist dann nur noch intuitiv. Es gibt ein grobes Gerüst, das ich dann anpasse mit dem, was da in mir entsteht. Ich gebe Gruppen- und Einzelstunden als Yoga-Lehrer, und dabei fließen sehr viele therapeutische Ansätze ein, aber auch buddhistische Philosophie.


Als was siehst Du Dich in dieser Funktion?

Im Grunde versuche ich mich in meinen Yoga-Stunden so unsichtbar wie möglich zu machen. Was sich im visuellen Bereich beispielsweise dadurch ausdrückt, dass ich immer ganz schlicht schwarz gekleidet bin, ich trage nie etwas anders, auch keinen Schmuck. Im Grunde spiele ich keine Rolle. Ich möchte die Menschen mit sich in Kontakt bringen, damit sie spüren, was ist da in mir los, wie fühlt sich heute mein Körper an, was macht mein Geist, was ist emotional los? Und wie verändert sich das möglicherweise durch die Yoga-Praxis. Diese Ebenen klopfe ich immer wieder ab. Beispielsweise halte ich in einer Asana an und lasse meine SchülerInnen beobachten, und das Entscheidende dabei ist: Wie reagiere ich auf das, was da passiert? Dabei geht es letztendlich nur um Selbst-Kompetenz. Am schönsten wäre es, wenn ich aus dem Raum herausgehen könnte, da alle wissen, was sie zu tun haben, und ich so überflüssig werde.


Wenn Du an Deine Berufung oder Dein Dharma denkst, welcher Aspekt Deiner Arbeit deckt dies ab und in welcher Weise?

Ich will einfach nur dienen. Das reicht.


Wenn Du an die Menschen denkst, die zu Dir kommen, was sind wohl die herausforderndsten Themen mit denen diese derzeit kämpfen?

Es ist nicht einfach zu beantworten, weil ich kaum noch mit Menschen in Kontakt bin. Das Thema, das manche umtreibt, ist der Umgang des Mit-sich-alleine-seins, die Einsamkeit, gepaart damit, dass es momentan trübe und trist ist und viele Menschen in dieser Jahreszeit großen emotionalen Schwankungen unterworfen sind. Auch wenn es jetzt im zweiten Lockdown nicht so schlimm ist: Die Doppelbelastung aus Homeoffice und Kinder-Betreuung, und das damit verbundene Gefühl „Ich muss vielen verschiedenen Bedürfnissen gerecht werden – kann das aber gar nicht.“ Das auszubalancieren, fällt vielen schwer. Dazu noch diese ganzen Nachrichten, das zehrt an uns allen. Es ist keinem mehr möglich, der nicht medizinisch gebildet ist, die vielen Infos einzuordnen, es noch zu sortieren, und zu unterscheiden, was wirklich richtig ist. Da ist sehr viel Unsicherheit vorhanden. Es ist viel zu wenig Handwerkszeug bei den meisten Menschen vorhanden, damit umzugehen und Klarheit zu finden. Das können viele nicht bewältigen und aushalten.


In welcher Weise unterstützt Du die Menschen, die zu Dir kommen, bei diesen Herausforderungen?

Im Grunde trägt die Arbeit der vergangenen Jahre jetzt Früchte. Das, was wir all die Jahre mit unseren SchülerInnen aufgebaut haben, z.B. Körpergewahrsein, wahrnehmen was macht der Geist, wie fühle ich mich, damit in Kontakt zu gehen und zu spüren, wie die Angst in mir hochkommt und zu spüren, wie ich darauf reagieren kann. Bin ich ein hilfloser Spielball der Zustände oder bin ich noch ein selbstmächtiges, agierendes Wesen, das reagieren kann? Das ist etwas, das wir angelegt haben, in den letzten Jahren. Und darauf kann ich mich jetzt beziehen, wenn ich vor die Kamera trete. Ich kann sagen: „Spüre in dich hinein, wo es eng wird, und versuche dich dort hinein zu entspannen.“ Das könnte ich so nicht unterrichten, ohne den Vorlauf der vergangenen Jahre. So kann ich genau da andocken, wo ich all die Jahre Vorarbeit geleistet habe. Und dass die Menschen mich verstehen, wenn ich sie in ihr inneres Erleben führe. Einer meiner liebsten Sätze ist: „In die Katastrophe hinein zu entspannen, in das Drama hinein zu entspannen.“ Der Satz kommt nicht von mit, der kommt von Pema Chödrön.


Wie hat sich Deine Arbeit durch die Pandemie verändert?

Die Rahmenbedingungen natürlich, dass ich nicht mehr in Kontakt bin. Im Gegensatz zum ersten Lockdown nehme ich mir aber die Freiheit und unterrichte meine Privatschüler, natürlich mit Abstand. Mir fällt es schwer, auf Abstand zu bleiben, ich bin jemand, der sehr viel mit den Händen und mit Nähe arbeitet. Aber ich versuche so viel, wie ich kann, über die Kamera zu transportieren, so persönlich wie möglich zu sein und mit Schlüsselwörtern zu arbeiten, mit dem zu agieren, was die Menschen von mir kennen. Dass ich sie immer wieder positiv triggre und wir uns verbinden, indem sie sich die Situation im Studio klar machen sollen. Und das funktioniert, ich bekomme oft die Rückmeldung “Ich habe das Gefühl, du bist hier bei mir im Wohnzimmer und ich bin in Kontakt mit den anderen, die immer in der Stunde sind.“ Und das ist schön, bei allen Schwierigkeiten und Herausforderungen. Wir haben eine Ebene gefunden, auf der wir einigermaßen gut arbeiten können.


Wie kommst Du mit Deinen persönlichen und familiären Herausforderungen durch die Pandemie zurecht? Wie hilft Dir dabei Deine persönliche Praxis?

Der erste Lockdown war geprägt durch das Homeschooling meiner Kinder, und da alles neu war, war das eine riesen Herausforderung. Dazu war es schwierig, das Studio am Laufen zu halten und damit Geld zu verdienen und die Energie hoch zu halten. Jetzt ist es viel einfacher für mich. Es war ja alles vorbereitet, wir mussten die Kamera nur wieder aufstellen; die Kinder gehen noch zur Schule und das Entscheidende: Meine persönliche Haltung hat sich geändert.

Ich habe für mich entschieden, ich habe es nicht mehr in der Hand, ich habe sozusagen die Hände vom Lenkrad genommen und schau jetzt mal, wohin die Kiste rollt. Und das tut gut. Ich tue mein Möglichstes hier, indem ich auf die Matte gehe und unterrichte und für die Menschen da bin und damit auch Geld verdiene. Aber ich weiß, ich kann es aus eigener Hand gar nicht mehr retten. Das hängt von anderen Faktoren ab, das hängt von der Politik ab, wie die Menschen sich verhalten, aber das liegt alles nicht in meiner Hand. Das finde ich eine ganz wichtige yogische Haltung: Klar differenzieren zu können, wo kann ich etwas beeinflussen und wo nicht. Ich habe die Hände vom Lenkrad genommen und damit geht es mir richtig gut. Ich kann die Zeit genießen, ich bastle mit meinen Kindern, ich backe Kuchen, ich mache Dinge, die ich viele Jahre viel zu selten getan habe. Ich mache viel Musik im Moment. Alles Dinge, die ich viel zu lange vernachlässigt habe.

Und zur Praxis: Klar hilft es, jeden Morgen auf Kissen zu gehen, meine Meditationspraxis hilft mir seit zwei Jahrzehnten. Das ist der Anker, das ist die Ruhe, das ist die Stabilität. Das Ganze gepaart mit einer schönen Yoga-Praxis, die mich ganz grundlegend durchbewegt, atmen, entspannen … Ganz simpel. Ich praktiziere nur noch intuitiv. Ich praktiziere morgens und spüre, wo ist der Körper z.B. eng. Der Körper zeigt mir ja alles, man muss nur kurz zuhören. Und dann bediene ich mich aus meinem Repertoire. In der Regel funktioniert das.


Wo holst Du Dir Deine Inspirationen in dieser Zeit? Oder anders gefragt: Wer oder was ist für Dich da?

Ich wäre nur ein halb so guter Yoga-Lehrer ohne meine buddhistischen Vorbilder, deren Sätze ich aufsauge. Ich schaue immer wieder in „Das weise Herz“ von Jack Kornfield hinein oder lese Tara Brach und Pema Chödrön. Das ist meine Heimat, da fühle ich mich aufgehoben. Ich liebe Podcasts von buddhistischen Lehrern. Für mich ist der Buddhismus, was das angeht, eine wichtigere Stütze als die yogische Philosophie. Ich finde ganz viel Hilfe beim Buddhismus. Das finde ich so richtig und gut, was dort aufgeschrieben und verkündet wird. Aber ich schaue auch in andere Disziplinen. Ich durfte dieses Wochenende erstaunlicherweise bei einem Seminar zum Thema „Systemische Aufstellung“ unter Corona-Bedingungen mitmachen, wo ich sehr viel über mich gelernt habe. Da hole ich mir manches her.

Eine ganz wichtige Inspiration sind meine Kinder, wo ich immer wieder in die Leichtigkeit zurückfinde. Wo ich selbst wieder ganz viel Kind bin. Das ist die andere Seite, die auch ganz, ganz wichtig ist. Auch Musik machen und Singen, sind hilfreich. Mir hilft es, so viel wie möglich in die Emotion zu kommen. Welcher Weg das ist, entscheidet der Tag, die Situation. Da schaue ich, was brauche ich gerade, was tut gut.


Welche Übung aus Deinem persönlichen Repertoire empfiehlst Du Deinen Teilnehmern am häufigsten in dieser Zeit und warum?

Die Aufmerksamkeit zur Atmung zu bringen, den Köper spüren, wie fühlt er sich an, schauen, was machen die Gedanken. Erkennen, dass das flüchtige Gedanken sind, erkennen, dass uns kein Gedanke jemals nach Hause bringen wird. Und dann das Entscheidende: Frieden finden, ein Wohlwollen finden, mit dem, was da ist. Alles, was gerade da ist, ist okay. Auch wenn es nicht leicht ist, versuche dir liebevoll zu begegnen. Versuche zärtlich mit dir zu bleiben. Versuche wohlwollend mit dir zu bleiben, mit allem, was da ist. So, wie du deinem besten Freund, deiner besten Freundin begegnest, so begegne auch dir. Das kannst du überall anwenden.


Warum lohnt es sich immer, mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken?

Weil die Geschichte über und über voll ist mit Beispielen, dass es immer und immer wieder weitergeht. Oder um unseren früheren Nationaltorwart Oliver Kahn zu zitieren, als Bayern München in der 92. Minute noch das entscheidende Tor zur Meisterschaft gelang: “Immer weitermachen, immer weitermachen!“ Das ist das Motto der Zeit.

 


Herzlichen Dank Lieber Jörn, für das herzerwärmende Interview und die Zeit, die Du Dir genommen hast, um uns in Deine inspirierende geerdete Weltsicht mitzunehmen!

Zur Person: Jörn Roes ist Yogalehrer. Er lebt in Hamburg und betreibt zusammen mit Ricke Penaranda das herzerfrischende Studio YOGAmoves in Ottensen in der Nähe des Bahnhofs Altona. Informationen findest Du auf www.yogamoves.de Dort findest Du auch alle Infos zum Online-Angebot.  Auf Facebook findest Du das Studio hier. Dort findest Du auch mehrere wunderbare Mitschnitte von Kirtans mit Jörn (zwischen 15. April und 28. Mai 2020 im Feed).

 

Jörn Roes
Jörn Roes

Jörns Lebenslauf behauptet, dass er 1976 geboren wurde, früher Radio-Journalist war und heute Yogalehrer und Leiter eines Yogastudios in Hamburg ist. Er selbst sieht sich vor allem als jemand, der Menschen zusammen und zu sich bringt. Der Menschen aus der Anstrengung in die Stille führt, der sie aus dem Kopf holt und zu Bauch und Herz führt. Jörn möchte berühren und berührt werden. Webseite: https://www.yogamoves.de

https://www.yogamoves.de