Winter 2022/23:
Unser eigener Zorn ist Selbstzermürbung, die wir zur Selbstheilung loslassen müssen
Von Michael Nickel
Die Kultur der Empörung, die uns Menschen polarisiert und unsere Gesellschaft spaltet, und die letzlich unserer Wut und unserem Zorn freien Lauf gewährt, scheint sich in den letzten Jahren wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet zu haben. Ein Symptom dafür mögen die vielen sinnlosen Gewalt- und Zerstörungsorgien sein, die sich in Deutschland an Silvester 2022/23 abgespielt haben – ausgeübt von frustrierten, zornigen Menschen, die sich vom Lauf der Welt um das betrogen fühlen, was eigentlich jedem Menschen von Geburt an zustehen sollte: innerer und äußerer Frieden von extremen Lebensbedingungen, seien es Krieg, Vertreibung, Unterdrückung oder Angst davor, sich das Leben nicht mehr „leisten zu können“. Die resultierende Diskussionen fokussiert sich ganz auf die Extreme, auf Schubladen und auf „Bestrafung“ – und vergisst dabei, dass all das nur die Spitze eines Eisberges ist, der in unserer Gesellschaft und in uns einzelnen Menschen tief in dunklen Wassern liegt: Unsicherheit, Enttäuschung, Frustration, Angst und daraus resultierende Wut und Zorn scheinen als latente Aggression überall zu lauern – selbst da, wo man es nicht erwarten würde.
Auch wenn sich in Europa in den letzten Jahren diese Kultur der zornigen Empörung ausgebreitet hat, ist diese Haltung weit davon entfernt, was der ehemalige französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel in seinem Essay Indignez-vous ! (Deutsch: Empört Euch!) im Jahr 2010 unter einer „Empörung“ verstand – nämlich eine engagierte Lebenshaltung, die dort zivilen Ungehorsam proklamiert, wo Institutionen massiv versagen.
Was sich jedoch in unserer Gesellschaft ausgebreitet hat, ist die Lebenshaltung, die eigenen Ansprüche als Goldstandard zu sehen – nur um dann festzustellen, dass diese Ansprüche weder vom Leben als Ganzes, noch von der Gesellschaft, noch von unseren Mitmenschen erfüllt werden. Das Resultat ist draus ist – wie die Yoga-Philosophie seit tausenden Jahren weiß – dass wir Enttäuschung erfahren und daraus Unsicherheit, Angst, zornige Empörung und schließlich unbändige Wut entsteht. Eine Wut, die sich dann ihr Ventil sucht und sich nach Außen gewalttätig entlädt – als häusliche Gewalt, als Krawalle, als gesellschaftliche Fehden, als Kriege! – Das ist so ziemlich das Gegenteil von gewaltlosem Widerstand und konstruktivem Beitragen zur Gesellschaft, das Menschen wie Gandhi oder Hessel vorschwebte.
Wir sind die ersten Opfer der Gewalt von Empörung, Wut und Zorn in unserem Inneren
Die Frage ist auch: Sind diese finalen gewalttätigen Ausbrüche, welche im Außen sichtbar werden, eigentlich die verheerendste Konsequenz, die Unsicherheit, Angst, Zorn und Wut haben? – Die Antwort kommt zu uns in Form von Jahrtausenden bestehenden Erkenntnissen der Weisheitstraditionen der Welt. Sie lautet: Nein! – Der größte Schaden entsteht schon weit vor dem Ausdruck von Zorn und Gewalt im Außen! Der erste Schaden entsteht bei uns selbst, wenn wir uns unserer Unsicherheit und Angst zu lange aussetzen und daraus Wut und Zorn entstehen lassen! Wir sind die ersten Opfer der Gewalt von Empörung, Wut und Zorn in unserem Inneren! All diese Emotionen und zugehörigen Gedankenkonstrukte stören unseren inneren Frieden, zwingen uns, innerlich mit uns selbst zu kämpfen und Beschädigen immer mehr unsere Menschlichkeit, die immer fragiler wird und schließlich wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt und Wut und Gewalt im Außen eruptiert. Es ist ein Teufelskreis par excellence! – Wollen wir es wirklich so weit kommen lassen? Und wenn nein, was können wir tun, um uns zu „schützen“?
Bewusste Selbsttransformaton ist der Weg in die Balance im Leben
Im ersten Moment mag der Impuls kommen, gegen das zu kämpfen, womit wir im Außen konfrontiert sind – doch dies ist nur eine weitere Runde in dem Teufelskreis! Es ist der Versuch, etwas im Außen zu bewirken, um inneren Frieden zu erlangen. Doch kann das funktionieren? – Die Yoga-Weisheit zeigt uns den umgekehrten Weg: Verändere etwas im Inneren, um nicht mehr vom Äußeren abhängig zu sein! Und dass es dabei nicht um Weltflucht geht wird klar, wenn man der Weisheit weiter zuhört, denn sie vermittelt uns etwas Erstaunliches: Die Veränderung im Inneren bewirkt Veränderungen im Außen! – Auch wenn es oft so dargestellt wird, als sei das Ziel des Yoga, die Welt zu überwinden und persönliche Freiheit zu erlangen – es geht darum, Freiheit von einer Knechtschaft durch die Welt und ihre äußeren Umstände zu erhalten, so dass wir in der Welt in innerem Frieden und innerer Freiheit leben können.
Die Tradition der Meister des Himalayas drückt es in diesem Motto aus: „In der Welt agierend und doch darüber stehend!“ – In dieser auch als Sri Vidya bekannten Tradition stehen „Erfüllung in der Welt“ (Bhoga) und „spirituelle Befreiung“ (Apavarga) in der Balance der beiden Seiten einer Waage – der Waage unseres persönlichen Lebens! – Doch wie gelangen wir in diese Balance? Die Antwort ist so einfach, wie herausfordernd: Bewusste Selbsttransformaton ist der Weg in die Balance im Leben.
Lass Dich durch diese Winter-Edition für Deinen Prozess der Selbsttransformation inspirieren!
Diese Edition Winter 2022/23 des Agni Magazin widmet sich genau diesem Themenkomplex: Durch Selbsttransformation zu innerem und äußerem Frieden. Dabei zeichnet uns Pandit Rajmani Tigunait ein Bild von der grenzenlosen Freude der Selbsttransformation im Yoga. Sein Lehrer Swami Rama kontempliert über mystische Erfahrungen von Transformation.
Zum Unterthema der transformativen (Selbst-)Heilung steuert Rod Stryker eine heilsame tantrische Meditation über Liebe bei und sein Lehrer Pandit Rajmani Tigunait legt uns dar, weshalb der Natur selbstlos zu dienen, zum Heilungsprozess und zur Transformation beiträgt.
Ein weiterer Bereich dieser Edition Winter 2022/23 geht noch einmal ganz konkret auf die oben angesprochenen Aspekte von Angst, Wut und Gewalt ein. So die drei Beiträge von Panditj Rajmani Tigunait „Angst und Gewalt bezwingen„, „Gegenpol zur Angst (Abhinivesha)“ und „Den Kreislauf der Gewalt durchbrechen – Die Ursprünge der Gewalt und die Macht der Gewaltlosigkeit„.
Ganz speziell im Zusammenhang zu Krieg und Frieden und was Selbsttransformation damit zu tun hat, erörtert Pandit Rajmani Tigunait warum wir Menschen Krieg führen. Deborah Willoughby legt dar, dass dauerhafter Frieden nur aus den Tiefen des menschlichen Herzens sprudelt und in meinem ersten Gedankenfutter zur Winter-Edition denke ich darüber nach, wie Weltfrieden bei uns selbst, bei jeder und jedem Einzelnen von uns, beginnt.
Es werden in den nächsten Tagen und Wochen noch einige Beiträge zum Thema Selbsttransformation im Bezug auf unsere Bestimmung (Dharma) hinzukommen. Diese findest Du dann im Inhaltsverzeichnis dieser Winter-Edition.
Noch viel mehr Inspiration zum Thema Selbsttransformation für inneren und äußeren Frieden findest Du in unserem Titel „Warum wir kämpfen: Yoga-Weisheit zu Krieg und Frieden„, den wir letztes Jahr angesichts des beginnenden Ukraine-Krieges veröffentlicht haben. Eine sehr lohnende, zeitlose Lektüre für alle, denen das Thema Frieden, und was wir selbst dazu beitragen können, am Herzen liegt:
Was 2023 im Agni Verlag ansteht
Für den Agni Verlag wird auch 2023 ein eher forderndes Jahr sein. Aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, der Rohstoffpreise und der tendenziellen Zurückhaltung der Kundschaft im Buchhandel werden wir unseren umsichtigen Kurs weiter beibehalten. Dennoch werden wir in diesem Jahr den mehrfach verschobene Titel „Die Praxis des Yoga Sutra – Sadhana Pada“ (Teil 2 von Pandit Rajmani Tigunaits Kommentars zum Yoga Sutra) endlich veröffentlichen (voraussichtlich im späten Frühjahr) – und ich arbeite schon jetzt fleißig an der Übersetzung des dritten Teils seines Kommentars zum Yoga Sutra, zum Kapitel Vibhuta Pada. Dazu kann schon jetzt gesagt werden, dass es sich dabei um einen bemerkenswerten Kommentar handelt, der weit tiefer geht als das, was in den meisten bisherigen deutschsprachigen Kommentaren zum Thema Siddhis zu finden ist. Du kannst Dich also schon mal freuen, wenn Du an der Philosophie und Praxis des Yoga Sutras interessiert bist.
Schließlich arbeiten wir auch noch am einem neuen Video-Kursportal Agni-Online, das im Laufe des Frühjahrs seine Tore öffnen wird und Dir neue Ressourcen zu den Themen und Buchtiteln des Agni Verlags bieten wird. Es zeichnet sich also ein ereignisreiches Jahr 2023 ab, in dem wir uns nicht von äußeren Widrigkeiten von unserem Weg abbringen lassen, sondern den Menschen dienen, indem wir durch unsere Yoga- und Meditationspraxis an uns selbst arbeiten.
Bleibt mir noch, Dir, Deinen Lieben und uns allen das Beste für 2023 zu wünschen: Möge das Jahr Gesundheit, Frieden, universellen Segen, Freude, Erfüllung auf allen Ebenen, Zufriedenheit, Gesellschaft lieber Menschen, Momente der Ruhe und Stille, sowie Inspiration und Kreativität in unser aller Leben bringen!
Herzlichst
Dein
Michael
Unser eigener Zorn ist Selbstzermürbung, die wir zur Selbstheilung loslassen müssen