Atemtechniken zur Linderung von emotionalem Schmerz

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Lesedauer 10 Minuten

Von Rolf Sovik

Der Schmerz negativer Emotionen – unsere Sorgen, Ängste, Eifersucht und Wut – ist genauso real wie körperlicher Schmerz. Obwohl wir mit unseren emotionalen Schmerzen genauso natürlich umgehen wie mit einem verstauchten Knöchel oder einem entzündeten Zahn, sind emotionale Schmerzen oft schwer zu lindern. In Zeiten der Angst kann es zum Beispiel schwierig sein, zu erkennen, wovor wir Angst haben. Wut hat oft mehr damit zu tun, dass wir unser Revier verteidigen, als dass wir wissen, worauf wir wütend sind. Und Traurigkeit über eine verlorene Beziehung kann leicht mit Bitterkeit oder Sehnsucht nach einem neuen Partner verwechselt werden. Wenn wir emotionalen Schmerz angehen wollen, müssen wir lernen, uns selbst klar zu sehen.

Emotionalen Schmerz zu lindern ist schwieriger, wenn wir defensiv reagieren. Die beiden gängigen Methoden, um mit dieser Art von Schmerz umzugehen – ihn zu unterdrücken oder ihn auf die Welt um uns herum zu projizieren – bieten nur vorübergehende Erleichterung. Unterdrückung ist das Bemühen, unangenehme Gedanken und Gefühle aus dem Bewusstsein zu verdrängen (nicht an sie zu denken), doch sie tauchen einfach wieder auf, wenn wir uns nicht vor ihnen schützen. Projektion bedeutet, dass wir die Ursache für unsere Gefühle jemandem oder etwas außerhalb von uns selbst zuschreiben – zum Beispiel das Wegschleudern eines Golfschlägers nach einem schlechten Schlag. Indem wir unsere Wut auf den Schläger projizieren, trennen wir uns für einen Moment von der Frustration, einen schlechten Schlag gemacht zu haben, doch damit ist nichts gelöst.

Emotionalen Schmerz zu lindern ist schwieriger, wenn wir defensiv reagieren.

So schmerzhaft negative Emotionen auch sind, bieten sie doch die Möglichkeit, unter die Oberfläche unseres Geistes zu blicken und Bereiche unseres Lebens zu untersuchen, die wir normalerweise vermeiden. Dabei lernen wir, uns selbst klar zu sehen und unsere negativen Gefühle an der Quelle aufzulösen. Doch wenn wir uns von Abwehrreaktionen leiten lassen oder von unseren unangenehmen Gefühlen überwältigt werden, verlieren wir die Perspektive. Yoga bietet eine praktische Alternative: die Möglichkeit, den mit negativen Emotionen verbundenen Schmerz zu bewältigen, indem wir uns bewusster machen, wie wir atmen. Die Atembewusstheit kann uns helfen, unsere Abwehrhaltung zu reduzieren und die Quellen des emotionalen Schmerzes anzugehen. Schauen wir uns an, wie das funktioniert.

Emotionen und der Atem

Negative Emotionen haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Atmung. Erinnerst du dich daran, wie sich deine Atmung verändert hat, als du das letzte Mal die Beherrschung verloren hast, von einem lauten Geräusch aufgeschreckt wurdest oder dich überfordert gefühlt hast? Wenn wir uns darauf konzentrieren, ein beunruhigendes Ereignis zu bewältigen, verschieben tiefere, abruptere oder schnellere Atemzüge das Gleichgewicht der Energie im Körper. Dadurch wird unsere Aufmerksamkeit für einen Moment erhöht, was uns darauf vorbereitet, Maßnahmen zu ergreifen, oder uns erlaubt, emotionale Energie abzulassen.

Solche Veränderungen in der Atmung sind in der westlichen Wissenschaft schon seit vielen Jahrzehnten bekannt. So wurde zum Beispiel 1916 in der ersten Ausgabe des Journal of Experimental Psychology eine Studie mit dem Titel „Einfluss von Emotionen auf den Atem“ veröffentlicht. Darin zeigte Annette Felecky, wie starke Emotionen viele der wichtigsten Merkmale der normalen Atmung verändern. Sie stellte fest, dass wir je nach Emotion schneller atmen, seufzen, keuchen oder sogar ganz aufhören zu atmen. 1986 schlugen italienische Forscher vor, dass auch vorbewusste Emotionen (also solche, die sich nicht vollständig manifestiert haben oder unterdrückt wurden) einen ähnlichen Einfluss auf den Atemstil haben können.

Das Gegenteil dieser Beobachtungen – das Wissen, dass jeder von uns seine emotionalen Reaktionen durch die bewusste Atmung und willkührliche Veränderungen der Atmung beeinflussen kann – ist weit weniger verbreitet. Die meisten Arbeiten in diesem Bereich beschränken sich auf die Untersuchung von Angststörungen, Hyperventilation und einigen anderen psychischen Problemen. Medizinische Texte über die Atmung befassen sich nur selten mit der willkührlichen Wahrnehmung des Atems, und selbst unter geschulten Yogaschülern wenden sich nur wenige von uns automatisch ihrer Atmung zu, wenn wir emotionale Schmerzen haben. Die Ermahnung, „ein paar tiefe Atemzüge zu machen“, wenn wir aufgeregt sind, ist immer noch nur ein Stück Volksmedizin.

Bewusstsein für den Atem

Wenn die Atmung von Emotionen beeinflusst wird, findet sie normalerweise am Rande des Bewusstseins statt. Aber wenn wir den Atem in Zeiten emotionaler Not nutzen wollen, müssen wir lernen, ihn leicht in unser Bewusstsein zu bringen. Dies kann geschehen, indem wir die reinigenden Empfindungen (im Ausatmen) und die nährenden (im Einatmen) zu einem vertrauten Bezugspunkt machen. Tägliche Praxis ist der Schlüssel dazu: Sie gibt uns die Möglichkeit, entspanntes Atmen zu beobachten und die Wechselwirkungen zwischen Atmung und Emotionen sichtbar zu machen, so wie eine Laborumgebung die Klarheit verstärkt, mit der experimentelle Effekte beobachtet werden können.

Im entspannten Atembewusstsein fließt der Atem mit zufriedenstellender Leichtigkeit. Er strömt in einer Umgebung der Fülle in die Lunge und aus ihr heraus; der Vorrat scheint unbegrenzt zu sein. Unsere Identität als atmendes Wesen ist sicher – das Gegenteil von dem, was wir empfinden, wenn wir unter emotionalem Stress stehen.

Die Atembewusstheit liefert uns reichhaltige Informationen über den Zustand von Körper und Geist. Wenn wir den Atem beobachten, nehmen wir nicht nur den ruhigen Rhythmus des Aus- und Einatmens wahr, sondern spüren auch die Barrieren und Komfortzonen, die sich im Körper etabliert haben: eine subtile Enge, die die Brustwand zusammenfallen lässt; ein allgemeines Gefühl der Muskelanspannung, das nur durch tiefe, pochende Seufzer gelindert wird; oder umgekehrt der Komfort eines entspannten Bauches. Wir spüren den durchdringenden Wunsch jedes Teils des Körpers zu atmen. Und wir spüren, wie sich der Geist im Einklang mit dem Atem entspannt oder anspannt.

Bewusstes Atmen üben

Obwohl die Mechanik der entspannten Atmung je nach Körperhaltung unterschiedlich ist, sind viele der grundlegenden Merkmale der entspannten Atmung unabhängig von der Körperhaltung. Übe die Atembewusstheit im Sitzen oder auf dem Rücken liegend, indem du die folgenden Anweisungen befolgst:

  • Schließe deine Augen. Entspanne deinen Bauch, deinen Rücken und die Seiten deines Brustkorbs. Spüre jedes Aus- und Einatmen und erlebe, wie sich jeder Atemzug reinigend und nährend anfühlt.
  • Erkenne, dass kein einziger Atemzug perfekt sein muss; bald folgt ein weiterer, um das Gefühl der Kurzatmigkeit zu korrigieren.
  • Lasse deinen Atem tief und gleichmäßig fließen, ohne zu pausieren.
  • Beobachte, dass dein Atem, wenn er einmal ruhig und ununterbrochen ist, nicht mehr so leicht gestört werden kann. Der Druck, den Gedanken und Gefühle auf den Atem ausüben, wird verringert.
  • Spüre den Fluss der Zeit. Du bist in der Gegenwart verankert, jagst nicht der Zeit hinterher oder rennst ihr voraus.
  • Nimm wahr, dass du eine ruhigere, wachsame Rolle einnimmst, während du auf deinen Atem achtest – du wirst zum inneren Beobachter.

Achte 5-10 Minuten lang auf deinen Atem und beobachte ihn so, als ob dein ganzer Körper atmet.

 

Atembewusstsein in Aktion

Mitten in einer emotionalen Reaktion fühlt sich die Atmung ganz anders an als in ruhigen Phasen der Atembewusstheit. Ein Energieschub aktiviert die Muskeln in der Brustwand und erhöht die Geschwindigkeit und Tiefe der Atmung, die dann eingeschränkt, ungleichmäßig oder ruckartig wird.

Bei täglicher Übung wirst du jedoch feststellen, dass die Atembewusstheit dir die Möglichkeit gibt, willentlich zu einem normaleren Atemstil zurückzukehren. Das kann die Gefühle der Abwehr verringern, die mit verzerrten Atemmustern einhergehen, und den Impuls beruhigen, entweder zu handeln oder eine negative Emotion zu unterdrücken, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Im Folgenden findest du Strategien zur Bewältigung von drei häufigen Ursachen für emotionalen Stress: Wut, Angst und Traurigkeit.

Wut

Behandle Wut mit Vorsicht. Sie ist oft ein Zeichen dafür, dass du verletzt bist oder ein Bedürfnis hast, doch sie kann auch einfach ein bequemer Weg sein, um zu bekommen, was du willst. Du kannst ein heißer Reaktor sein, der leicht wütend wird, oder ein kühler Reaktor, dessen Wut nur selten zum Kochen kommt. Deine Wut kann sich als Ungeduld oder als Wutausbruch äußern, doch egal, welche Form sie annimmt, Wutausbrüche aller Art können peinlich ineffektiv und außerdem ziemlich anstrengend sein.

Yoga bietet eine Technik, die dir helfen kann, die Explosivität der Wut zu bewältigen und dir wertvolle Zeit zu geben, die Situation zu verarbeiten, ohne die Kontrolle zu verlieren. Die Methode besteht darin, den Atem in den Nasenflügeln strömen zu lassen. Versuche es jetzt. Spüre den Atem in den Nasenflügeln für nur ein oder zwei Minuten und du wirst spüren, wie sich ein Prozess der Zentrierung in dir vollzieht. Wenn du wütend bist, kannst du dich auf diese Weise konzentrieren, um eine klarere Perspektive auf die Ereignisse um dich herum zu bekommen. Lerne also, deine Aufmerksamkeit auf den Atem in den Nasenflügeln zu lenken, wenn dein Ärger aufsteigt. Das hilft dir, die Quelle der Störung zu analysieren, die Vor- und Nachteile des Wutausbruchs abzuwägen und genügend Abstand zu gewinnen, um eine angemessene Reaktion zu wählen.

Akute Ängste

Bei der Angst geht es immer um die Zukunft: Wir fühlen uns ängstlich, weil wir eine Gefahr sehen, die auf uns lauert. Wenn die Angst übermächtig wird, führt sie zu einem Gefühl der Ohnmacht. Was können wir tun, wenn wir durch Angst entnervt sind?

Eine gute Strategie ist es, sich so oft wie möglich auf den Atem zu konzentrieren – das wird deine Aufregung und das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben, beruhigen. Leg dich hin und beobachte 6-8 Mal am Tag deinen Atem. Nimm dir 5 Minuten Zeit, um in deinem Stuhl die Augen zu schließen und deinen Atem zu beobachten. Gehe um den Block und beobachte dabei deinen Atem. Lass dich von den Empfindungen des Ausatmens und Einatmens entspannen und in der Gegenwart halten, damit du klar und entschlossen denken und handeln kannst.

Traurigkeit und Depression

Traurigkeit ist das Gefühl des Verlusts; Depression ist das Herunterfahren der emotionalen Reaktionen, wenn der Verlust überwältigend erscheint. In beiden Fällen ist der äußere Anschein von Untätigkeit und Trägheit, der diese beiden Zustände oft kennzeichnet, trügerisch – unser Geist ist aktiv und dreht die Ereignisse immer wieder um, um sie zu akzeptieren. Das wirkt sich auf den Atem aus, indem kurze Pausen entstehen – Momente, in denen wir in Gedanken versunken sind, Momente, in denen der Energiefluss, den wir so dringend brauchen, um uns ganz zu fühlen, auf subtile Weise unterbrochen wird. Du wirst dich besser fühlen, wenn du die Atembewusstheit nutzt, um einen konstanten Atemfluss aufrechtzuerhalten. Übe das regelmäßig. Lass dich durch Seufzer oder tiefe, heftige Atemzüge darauf aufmerksam machen, dass deine Atmung unterbrochen wurde. Kämpfe nicht mit dir selbst. Ermutige den Atem, ohne Pause zu fließen, damit du Müdigkeit und Kummer loslassen und neue Energie tanken kannst.

Kurzanleitung für Atemstrategien zur Linderung von emotionalen und physischen Schmerzen

Die Wechselwirkung zwischen Emotionen und Atmung ist normalerweise unwillkürlich und wir schenken ihr nicht viel Aufmerksamkeit. Doch die Gewohnheit, auf den Atem zu achten, kann den Energieverlust verringern und uns helfen, mit schmerzhaften Emotionen besser umzugehen. Der Schlüssel dazu ist, eine tägliche Routine der Atembewusstheit zu entwickeln, auf die wir uns verlassen können, um auszugleichen, wenn uns belastende Ereignisse stören. Übe ein- bis zweimal täglich 10 Minuten entspanntes Atmen – und wende dann die folgenden Atemstrategien an, um deine Atemfähigkeiten an jede stressige Situation anzupassen, der du begegnest:

Bei Wut: Wenn deine Wut aufsteigt, achte auf den Atem, der durch die Nasenflügel fließt.

Bei akuten Ängsten: Übe dich den ganzen Tag über in entspannter Achtsamkeit (6-8 Mal am Tag oder sogar stündlich).

Bei Traurigkeit: Atme in einem ununterbrochenen Fluss und lass den Atem tief und entspannt werden; vermeide vor allem Pausen im Atem.

Bei körperlichen Schmerzen: Vertiefe den Atem; dann nutze deine Atmung, um dich dem Schmerz anzuschließen, anstatt ihn zu bekämpfen.

 

 

Dieser Artikel erschien auch in der Wisdom Library des Himalayan Institute, USA. Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

 

Hinweis der Reaktion

Wenn Du wenig Erfahrungen mit Atemübungen hast, dann ist es gut, wenn Du Dir von einer Yogalehrerin oder einem Yohgalehrer Übungen beibringen lässt. Allgemeine Hintergründe zum Thema Atem und wi man achtsame Atemübungen nutzen kannst, findest Du in der umfangreichen Literatur zum Thema. Ein Buch für den Einstieg findest Du auch im Agni Verlag: Die Wissenschaft vom Atem – Eine Praktische Einführung in Atmung, Atemachtsamkeit und Pranayama von Swami Rama, dem Lehrer von Rolf Sovik, der diesen Beitrag verfasst hat.

 

Rolf Sovik
Rolf Sovik

Rolf Sovik, Präsident und Spiritueller Leiter des Himalayan Institute, Doktor der Psychologie, begann 1972 sein Studium von Yoga und Meditation. Er ist Schüler von Swami Rama und Pandit Rajmani Tigunait und hat unter ihrer Anleitung die Lehren der Himalaya-Tradition erforscht. Er hat Abschlüsse in Philosophie, Musik, Östliche Studien und Klinische Psychologie. Derzeit lebt er mit seiner Frau Mary Gail am Himalayan Institute.

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