Das Geheimnis der Yoga Sutras – Interview mit Pandit Rajmani Tigunait (Teil 1)
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Pandit Rajmani Tigunait im Interview über die Yoga Sutras, seinen Kommentar, seine Kurse und die Mission des Himalayan Institute.
Einleitung und Interviewfragen von Michael Nickel
Pandit Rajmani Tigunait sitzt in einem bequemen Sessel im Haupthaus auf dem idyllischen Anwesen des Himalayan Institute in der Nähe von Khajuraho, Indien und lächelt mich erwartungsvoll und herzlich an. Manche würden das Anwesen Aschram nennen, das Himalayan Institute nennt es Campus. Und entsprechend ist die Atmosphäre unter der kleinen Gruppe von Gästen und Mitgliedern des Institutes: Selbststudium und Meditationspraxis stehen im Vordergrund. Alles hier scheint die praktische Philosophie meines Interviewpartners, den seine Schüler liebevoll Panditji nennen, widerzuspiegeln.
Pandit Rajmani Tigunait ist der spirituelle Kopf des Himalayan Institutes, das seinen Sitz in Honesdale, Pennsylvania in USA hat. Gegründet von Swami Rama, pflegt es seit Jahrzehnten das Wissen aus der Tradition der Himalayan Masters und lehrt es im Westen, insbesondere in USA und Großbritannien. Seit Swami Ramas 1996 diese Welt verließ, steht Pandit Rajmani Tigunait dem Institut vor. Aufgewachsen in einer Schriftgelehrten-Familie, wurde er früh als Pandit (Schriftgelehrten-Priester) ausgebildet, verzichtete jedoch wenige Zeit später weitgehend auf die Ausübung priesterlicher Zeremonien und wechselte an die Universität von Allahabad, wo ein Sanskrit-Studium folgte, das er mit zwei Doktorgraden in Indien und USA abschloss.
Diese akademisch-wissenschaftliche Ausrichtung war von Kindheit an durch intensive spirituelle Praktiken ausgeglichen. Als junger Mann hatte er die Gelegenheit, bei mehreren großen tantrischen Meistern zu lernen, bevor er in Swami Rama den Lehrer fand, der ihn dann auch mit in den Westen nahm. Heute ist Pandit Tigunait international höchst vernetzt, sowohl in Wissenschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft. Dennoch hält er sich seit Jahrzehnten an die Auflage seines Meisters, sich nicht in Politik, Religion und sektiererischen Aktivitäten einzulassen. Das Himalayan Institute floriert unter seiner Führung, in seinen zahlreichen Büchern und beliebten Kursangeboten vermittelt Pandit Tigunait praktische und tiefgreifende Aspekte der Yoga-Philosophie und Praktiken aus den tantrischen Yoga-Traditionen, insbesondere Sri Vidya. Eine seiner jüngeren Publikationen, eine Neuübersetzung der Yoga Sutras von Patanjali und ein zugehöriger Kommentar, der 2019 im Agni-Verlag auch auf Deutsch erschienen ist, hat weltweit große Aufmerksamkeit erregt und ihm weitere Anerkennung eingebracht. Im Interview gewährt er tiefe und teilweise persönliche Einblicke in seine praktische Sichtweise auf Philosophie, sowie die Mission des Himalayan Institutes.
Agni-Magazin: Vielen Dank, dass Sie uns dieses Interview geben. Ich würde gerne direkt in unser Thema springen. Sie haben die Yoga Sutras neu übersetzt und kommentiert. Was ist aus Ihrer Sicht die Essenz der Yoga Sutras?
Pandit Rajmani Tigunait: Drei Aspekte stehen für mich bezüglich der Sutras im Zusammenhang mit der Essenz des Yoga. Erstens, meine Übersetzung und Kommentare stellen keine streng wissenschaftlich-philosophische Abhandlung dar. Obwohl ich mich natürlich im Rahmen der Samkhya-Philosophie und -Metaphysik bewege, ist das Buch im Wesentlichen für Praktizierende geschrieben.
Zweitens, mein Kommentar orientiert sich nahe an der Tradition von Sri Vidya. Sri Vidya ist eine Teiltradition innerhalb des Tantrismus und die Lehrer dieser Tradition waren immer Freidenker und sehr eklektisch. Sie zögerten niemals, die besten Prinzipien, Theorien, Doktrinen und Disziplinen der Praxis in ihr eigenes, persönliches Leben zu integrieren. Demnach entwickelte sich diese spezifische Philosophie als Philosophie der Integration.
Dementsprechend habe ich in dieser Übersetzung und diesem Kommentar dieselbe Herangehensweise adoptiert. Der Hauptgrund dafür ist, dass die tantrische Tradition von Sri Vidya meine eigene Tradition ist. Sri Vidya umfasst die Lehren von Vedanta, also von Shankaracharia, ebenso wie Lehren aus dem Shaktismus. Die Herangehensweise, die ich gewählt habe, entspricht nach den Lehren der Meister dieser Tradition dem Kernkonzept, nämlich, dass das Leben sehr wertvoll und wunderschön ist. Die Tendenz, die wir hier und da in anderen Yoga-Schriften finden, dass das Leben eine Fessel ist, dass wir wegen unseres schlechten Karmas hier in dieser Welt gelandet sind, dass der Sinn des Lebens darin besteht, dem Samsara-Zyklus von Geburt und Tod so schnell wie möglich zu entkommen, ist keine sehr konstruktive Einstellung.
Die Wahrheit ist doch, jeder von uns ist daran interessiert, am Leben zu sein und ein gesundes Leben zu führen. Keiner ist daran interessiert, ein armer Tropf zu sein. Niemand ist daran interessiert schnell zu sterben. Also gibt es ein natürliches Interesse in uns, zu leben. In unserem Herzen wissen wir, dass es etwas sehr Profundes, überaus Wunderschönes, sehr Wertvolles in uns gibt, das wir erreichen müssen, und aus diesem Grund möchten wir, bis zu unserem letzten Atemzug, am Leben bleiben. Es scheint eine versteckte Hoffnung in unserem Geist zu geben, dass wir vielleicht in den nächsten Tagen, in den nächsten Stunden, in den nächsten paar Momenten verstehen werden, warum wir in diese Welt gekommen sind. Das ist eine klare Indikation dafür, dass dieses Leben sehr bedeutungsvoll ist.
Den Sinn des Lebens zu finden, ist das Ziel von Yoga. Nichts von allen Werkzeugen im Yoga ist wichtiger, als unser Körper und unser Geist, um dieses Ziel zu erreichen. Unser Geist, unser Körper, unsere Sinne – das sind die effizientesten Werkzeuge, die die Natur uns gegeben hat. Dementsprechend nennen wir es Yoga, wenn wir uns um unseren Körper, unseren Geist, unsere Sinne kümmern und den Reichtum entdecken, der in unserem Geist und unserem Körper versteckt ist. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich den Kommentar geschrieben. Ich würde also sagen, das ist die Essenz des Kommentars.
Drittens, in meinem ersten erschienenen Kommentar „Das Geheimnis des Yoga Sutra – Samadhi Pada“, welcher Kapitel eins der Yoga Sutras behandelt, habe ich mir die Freiheit genommen, die Kern-Praktiken zu beschreiben. Diese finden sich besonders in Sutras 1.34 bis 1.36 – die Meditation auf den Lotus des Herzens – und beschreiben, wie wir durch diese Meditation unsere reine, strahlende Freude wiederentdecken können, die dort in uns wohnt. Ich habe in diesem Zusammenhang viel größeren Wert auf die Details gelegt, als jeder andere Kommentator zuvor. Die Intention war ja, diesen Kommentar für Praktizierende zu schreiben.
Natürlich gibt es auch viele weitere Stellen im Buch, an denen ich wesentlich weiter in die Tiefe gehe als andere Kommentare. Zum Beispiel zu Sutras 1.23 bis 1.29, in denen von „Gott“ – Ishvara – die Rede ist. Was bedeutet „Gott“ im Yoga und wie setzen wir dieses Prinzip, diese Idee, diese Doktrin, dieses Konzept in unserem täglichen Leben um? Es geht also darum, Gott zu erfahren, anstelle lediglich an Gott zu glauben.
Das klingt sehr danach, als könnte der Leser das Buch dazu benutzen, ein freudvolles Leben zu finden.
Ganz genau so ist es!
Dieses Interview erschien zuerst in gekürzter Version im Yoga Aktuell 92 (2015). Das Buch, über das im Interview gesprochen wird, „Das Geheimnis der Yoga Sutras – Samadhi Pada“ ist im Frühjahr 2019 im Agni Verlag auf deutsch erschienen und ist über den Agni Verlag Webshop, über unseren Amazon-Verlagsshop und natürlich im lokalen Buchhandel erhältlich. Das Buch wird inzwischen in vielen Aus- und Weiterbildungen für Yoga-Lehrer eingesetzt und wenn Du ein Interesse an authentischer Yoga-Philosophie hast, ist dieses Buch eine tiefe Bereicherung und Inspiration für den Sucher in Dir.
Das Interview führte Michael Nickel. Fotos ebenfalls von Michael Nickel.