Die Niyamas: Schlüssel zum spirituellen Fortschritt

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Lesedauer 9 Minuten

Von Rolf Sovik

Die Yamas und Niyamas zusammen stellen die 10 kraftvollen Richtlinien dar, welche die ersten beiden Sprossen des Raja Yoga (königlicher Yoga, der achtgliedriger Pfad) bilden. Wenn die Yamas (die Beschränkungen) wie die Ufer eines Flusses sind, die den willkürlichen Fluss der inneren Energien eindämmen, dann sind die Niyamas (die Verhaltensweisen) die Disziplinen und Beobachtungen, die diesen Strom vorwärts in Richtung seines Ziels treiben. Die fünf Niyamas sind konstruktive Werkzeuge, um Glück und Selbstvertrauen zu kultivieren – die Gelegenheiten, sie zu praktizieren, ergeben sich, wo auch immer du dich befindest.

Selbst-Reinigung (Shaucha)

Shaucha bedeutet “ Reinigung; Sauberkeit“. Es beinhaltet eine Reihe von Techniken zur Reinigung des Körpers und des Geistes und wird sogar als das Ziel des gesamten Yoga-Systems bezeichnet. Warum hat es eine solche Bedeutung? Die Weisen sagen, dass Shaucha nicht nur die Grundlage für körperliche Gesundheit ist, sondern auch das Tor zu tieferen und ruhigeren Zuständen der Meditation ist.

Die Zusammenhänge zwischen Reinigung und Gesundheit sind leicht zu erkennen. Zum Beispiel wird die dramatische Verlängerung der menschlichen Lebensspanne im letzten Jahrhundert weithin den Verbesserungen der sanitären Anlagen zugeschrieben. Und die Notwendigkeit von Sauberkeit sowohl im Umgang mit Lebensmitteln als auch in medizinischen Situationen ist allgemein bekannt. Aber die Reinigung hat eine noch intimere Beziehung zu unserer Gesundheit. Der Körper, der Atem und der Geist sind alle einem ständigen Wandel unterworfen – alte Zellen werden durch neue ersetzt, der Atem eilt und fließt, Gedanken kommen und gehen in einer scheinbar endlosen Prozession. Auf jeder Ebene unseres Seins werden ständig Nährstoffe aufgenommen und Abfallstoffe ausgeschieden.

Blockaden im Fluss auf jeder Ebene stellen für Schwierigkeiten geradezu die Einladung dar. Und aus yogischer Sicht ist die Ansammlung von inneren Abfallstoffen (sei es in Form von unverdauter Nahrung oder unverdauter Erlebnisse) die Hauptursache für Krankheit. Das Ziel von Shaucha ist es, innere Giftstoffe und Abfallprodukte zu entfernen und weise aus den vielen Angeboten an Nahrung, Emotionen und Gedanken auszuwählen, die darauf warten, aufgenommen zu werden.

Wenn der Körper gereinigt ist, erfreut er sich körperlicher Gesundheit. Wenn der Geist gereinigt ist, wird er zunehmend klar, freundlich und lebensfroh. Er hält nicht an Angst oder Wut fest, und Selbstzweifel verschwinden rasch. All diese Vorteile, sowohl innerlich als auch äußerlich, kommen durch die Praxis des Yoga zustande.

Es ist nicht schwer, Momente im Leben zu erkennen, in denen Shaucha produktiv angewendet werden kann. Der Trick ist, diese Momente zu ergreifen und sie zu nutzen. Denn wie die Texte sagen: Wenn das Herz gereinigt ist, dann wird der Geist auf einen Punkt ausgerichtet. Wenn der Geist zentriert ist, werden die Sinne ruhig. Und wenn die Sinne beruhigt sind, ist der Weg zur Selbstverwirklichung vorbereitet.

Zufriedenheit (Santosha)

Das Wort Santosha bedeutet sowohl „Zufriedenheit“ als auch “ Wonne, Glück, Freude“. Wir neigen dazu, es mit der Befriedigung von Wünschen gleichzusetzen, aber Yogis sagen uns, dass wahre Zufriedenheit etwas ganz anderes ist. Sie weisen darauf hin, dass das Glück, welches aus der Erfüllung von Wünschen entsteht, bald durch die Geburt von mehr Verlangen und Frustrationen getrübt wird. Zufriedenheit – so sagen sie – ist etwas ganz anderes. Diese entfaltet sich aus einer Erfahrung der Akzeptanz – des Lebens, von uns selbst und von allem, was das Leben uns gebracht hat. Zufriedenheit ist ein Aspekt des Lebens im Moment. Wenn wir zufrieden sind, sind wir glücklich. So wird Glück – und hier ist der Schlüssel zu diesem Niyama – durch die Kraft der Zufriedenheit zu unserer Wahl.

Aber wie können wir Zufriedenheit erreichen, wenn wir innerlich enttäuscht sind und nach Veränderung und Verbesserung streben? Die Antwort ist tatsächlich praktischer als wir es uns vielleicht vorstellen: Wir erschaffen sie. Wir verpflichten uns der yogischen Prämisse, dass alles, was wir im gegenwärtigen Moment haben, genug ist. Und sobald wir das tun, wird das Glück einen dauerhaften Platz in unserem Leben finden. Was auch immer wir für die Zukunft anstreben, wird einfach zu unserer Freude beitragen.

Zufriedenheit zu praktizieren bedeutet, die Vergangenheit loszulassen. Es bedeutet, dass wir uns nicht dafür verurteilen, dass wir nicht weiser, reicher oder erfolgreicher sind als wir es sind. Es bedeutet auch, dass wir unseren Geist von Erwartungen befreien müssen. Dann werden wir das Leben in einem größeren Zusammenhang sehen und in der Lage sein, seine Höhen und Tiefen mit Gleichmut zu meistern. Zufriedenheit erlaubt uns zu wissen, dass wir die richtigen Anstrengungen unternehmen. Zufriedenheit führt uns auch zum nächsten Niyama, Tapas, das es ergänzt und vervollständigt.

Selbst-Disziplin (Tapas)

Die wörtliche Definition von Tapas ist „Hitze“, in diesem Fall die Hitze, die sich in Zeiten entschlossener Anstrengung aufbaut. Tapas begleitet jede Disziplin, die bereitwillig und gerne angenommen wird, um eine Veränderung herbeizuführen – sei es eine verbesserte Gesundheit, eine neue Gewohnheit, bessere Konzentration oder eine andere Richtung im Leben. Tapas fokussiert die Energie, schafft Eifer und steigert Kraft und Selbstvertrauen. Die Praxis von Asanas ist eine Form von Tapas für den Körper. Meditation ist eine Form von Tapas, die den Geist reinigt und fokussiert.

Doch Tapas ist nicht so sehr eine spezifische Handlung, sondern die konzertierte innere Anstrengung, welche die Handlung begleitet. Tapas kann mit jeder Aufgabe Hand in Hand gehen – sogar mit etwas so Banalem wie dem Putzen des Badezimmerbodens. Wann immer wir unsere Handlungen mit voller Entschlossenheit und Anstrengung ausführen, werden sie mit Tapas ausgeführt. So wie ein Lichtstrahl fokussiert und zu einem kraftvollen Laser umorganisiert werden kann, so fokussiert unsere Entschlossenheit verschiedene Energien, um das innere Feuer zu erhöhen. Weit entfernt von der Gedankenlosigkeit schwerfälliger Disziplin, erzeugt wahres Tapas Leidenschaft und Begeisterung.

Was ist der Wert von Handlungen, die mit bewusster Entschlossenheit und Selbstdisziplin ausgeführt werden? Stelle dir einen Haufen gestapeltes Holz vor, der allmählich von einer stetigen Flamme verzehrt wird. Das Feuer reinigt und transformiert zugleich – Unreinheiten werden zu Asche, während die im Holz enthaltene Energie in Form von Licht und Wärme freigesetzt wird. Handlungen der Tapas sind ähnlich. Sie reduzieren Lethargie, Trägheit, Entmutigung, Zweifel und die schlechten Auswirkungen vergangener Handlungen zu Asche. Sie setzen Energie in Form von Licht und Wärme frei – in unserem Fall, Freude und produktives Handeln.

Ein praktischer Ratschlag zu Tapas: Sei realistisch. Durch den Eifer von Tapas können wir uns entscheiden, gesunde Veränderungen in unserem Leben vorzunehmen, aber sich nur auf ein oder zwei Veränderungen auf einmal zu konzentrieren, ist normalerweise der beste Weg. Mache kleine Schritte, die erfolgreich durchgeführt werden können. Finde Ersatz für Gewohnheiten, die unproduktiv sind. Und schließlich, wenn du dich auf das Scheitern konzentrierst, denke daran, dass Schuldgefühle ihre negativen Auswirkungen verstärken und dich mit dem Ereignis beschäftigen, das sie überhaupt erst hervorgerufen hat. Vergebe dir selbst leicht, während du deine Entschlossenheit und Selbstdisziplin verdoppelst.

Selbst-Studium (Svadhyaya)

Svadhyaya bedeutet wörtlich „sich an das Selbst erinnern (sich erinnern, kontemplieren, meditieren)“. Es ist das Bemühen, das Selbst zu kennen, das als innerster Kern unseres Seins leuchtet. Inzwischen dürfte jedoch klar sein, dass das Wort Selbst im Kontext des Yoga einen vorsichtigen Umgang erfordert. Im alltäglichen Sinn impliziert „Studium des Selbst“ die Selbstanalyse – das Bemühen, ein klareres Verständnis unserer Persönlichkeit zu erlangen. Yoga nähert sich dem Thema des Selbststudiums ganz anders. Es erkennt an, dass die Analyse wichtige Informationen liefern kann, aber Yogis glauben seit langem, dass, egal wie viele Stunden wir ihr widmen, die Selbstanalyse uns nicht von den Spannungen des täglichen Lebens befreien wird. Dafür müssen wir tiefer eintauchen.

Das Selbststudium beginnt mit dem Studium von Schriften, die uns inspirieren, die Gegenwart des innewohnenden Geistes zu spüren. Sie ermutigen uns, indem sie veranschaulichen, wie das Leben transformiert wird, wenn wir lernen, uns zu konzentrieren und im Inneren zu ruhen. So beschreibt zum Beispiel die Bhagavad Gita die Freude der Selbsterkenntnis: „Einer, dessen Freude im Inneren ist, der Zufriedenheit im Inneren findet, dessen Licht im Inneren ist – ein solcher Yogi erlangt die dauerhafte Glückseligkeit des höheren Selbst.“ (Bhagavad Gita 5.24)

Doch so inspirierend es auch sein mag, ein solches Wissen nützt wenig, wenn wir es nicht auf uns selbst anwenden können. In der zweiten Stufe des Selbststudiums erlangen wir durch das Üben der Yamas und Niyamas, der Asanas, der Atembewusstheit und der Meditation ein funktionierendes Wissen über uns selbst und wir lernen zu erkennen, wann wir in Harmonie mit unseren Zielen handeln und wann wir unbewusst gegen sie handeln. In diesem Stadium sind Selbstwahrnehmung, Kontemplation und Achtsamkeit mächtige Werkzeuge.

Mit der Zeit wird das Selbststudium immer mehr nach innen gerichtet. Wenn das Mantra in unsere Meditationspraxis eingeführt wird, stellt es eine direkte Verbindung zu unserem inneren Selbst her. Wir spüren eine innere Ruhe, einen Zustand, der in unserem täglichen Leben verweilt, Konflikte reduziert und uns wieder zurückruft, wenn unsere Meditationszeit naht.

Das Selbststudium ist nicht verpflichtend. Jede Yoga-Praxis kann ein Teil davon sein, ebenso wie die Worte von Yogis, Heiligen und Weisen, sowie die Inspiration durch die Lehrer, zu denen wir uns hingezogen fühlen. Folge deinem Herzen bei der Wahl deines Studienweges und lass dich von ihm nähren.

Selbsthingabe (Ishvara Pranidhana)

Ishvara bezieht sich auf das alles durchdringende Bewusstsein, Pranidhana bedeutet „sich hingeben“. Zusammen werden diese Worte am häufigsten mit „Selbsthingabe“ übersetzt, dem letzten und wichtigsten der Niyamas, und vielleicht dem schwierigsten für Schüler, es zu verinnerlichen. Das Problem liegt natürlich in dem Wort „Hingabe“. Für viele von uns impliziert es eine Niederlage – unser Wille wird überwältigt und zur Unterwerfung gezwungen. Und was könnte beleidigender für unseren Sinn für Unabhängigkeit und Selbstverantwortung sein als dies?

Um die Bedeutung von Ishvara pranidhana zu verstehen, lass uns kurz zu den vier instinktiven Trieben zurückkehren: Ernährung, Schlaf, Sex und Selbsterhaltung. Sie zu befriedigen ist eine endlose Aufgabe. Sie können reguliert werden, aber niemals vollständig befriedigt werden. Wenn die vier Triebe den Fluss des Lebens diktieren, wird das Streben nach Glück unweigerlich von Äußerlichkeiten abhängig. Und ein Zweck der Yamas und Niyamas ist es, unsere Bedürfnisse zu regulieren, damit das Leben nicht zu einer endlosen Runde solcher Begierden und Anhaftungen wird.

Neben den vier primitiven Trieben existiert jedoch noch ein weiterer mächtiger innerer Antrieb: der Drang nach Selbstverwirklichung. Genauso stark und unerschöpflich wie die anderen vier, wird dieser fünfte Drang durch die Aufmerksamkeit auf unser inneres Leben erfüllt, und sein Ruf ist die Stimme unseres inneren Selbst. Wenn die äußere Welt uns ablenkt, entgleitet sie uns, nur um später zurückzukehren und erneut zu rufen.

Yoga zeigt uns, wie wir diesen Ruf beantworten können. Durch die praktischen Erfahrungen, die wir auf unserer Suche sammeln, werden wir inspiriert, mehr zu praktizieren. Unser Enthusiasmus wird durch die Anforderungen des täglichen Lebens getestet und gestärkt. Wir mögen Entscheidungen treffen, die denen unlogisch erscheinen, die nichts von der inneren Reise wissen, die wir eingeschlagen haben, aber wir fühlen uns wohl mit der Richtung, die unser Leben genommen hat.

Selbsthingabe ist also kein Prozess der Niederlage oder der gedankenlosen Unterwerfung unter den Willen eines anderen. Es ist der Akt der Hingabe an ein höheres Ziel – und wenn wir das tun, fühlen wir uns erhaben und gestärkt. Dies kann inmitten eines Entscheidungsprozesses geschehen oder bei der Entdeckung eines Standpunktes, der besser ist als unser eigener, aber am häufigsten geschieht es, wenn wir meditieren, wenn wir die Gedanken und Wünsche loslassen, die unseren Denkprozess binden und unsere Aufmerksamkeit auf das Zentrum unseres Seins richten. Zu solchen Zeiten transzendieren wir die Begrenzungen unserer Anhaftungen und spüren die Präsenz der inneren Stille. In welcher Form auch immer sie sich zeigt, diese Erfahrung, so sagen uns die Weisen, führt uns zur Ganzheit und zur Erfüllung unserer inneren Suche.

 

Auszug aus dem Buch „Yoga: Mastering the Basics“ (Himalayan Institute, 2000, Deutsche Ausgabe vergriffen). Dieser Artikel erschien auch in der Wisdom Library des Himalayan Institute, USA. Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

 

Rolf Sovik
Rolf Sovik

Rolf Sovik, Präsident und Spiritueller Leiter des Himalayan Institute, Doktor der Psychologie, begann 1972 sein Studium von Yoga und Meditation. Er ist Schüler von Swami Rama und Pandit Rajmani Tigunait und hat unter ihrer Anleitung die Lehren der Himalaya-Tradition erforscht. Er hat Abschlüsse in Philosophie, Musik, Östliche Studien und Klinische Psychologie. Derzeit lebt er mit seiner Frau Mary Gail am Himalayan Institute.

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