Samavritti Pranayama – Mit dem Atem in den inneren Schutz- und Ruheraum
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Von Michael Nickel
Yoga und die Impulse meiner Lehrer haben mir eine seltsame Gabe beschert. Egal wo ich bin, ich nehme sofort die Atemmuster meiner Mitmenschen um mich herum wahr. Das kann ein ganz amüsanter und lehrreicher Zeitvertreib sein, etwa in der Straßenbahn. Es ist bei gut gelaunten Menschen eine sehr freudvolle
Das Muster ist im Grunde einfach: gleichmäßiges tiefes Ein- und Ausatmen, so rund und flüssig, dass keinerlei Pausen entstehen, weder in der maximalen angenehmen Fülle des Atems noch in seiner angenehmsten Form der Leere. Eins zu eins die Länge des Ein- und Ausstroms. Was so unscheinbar und oberflächlich „einfach“ und so gar nicht „fortgeschritten“ daher kommt ist in der praktischen Umsetzung für sehr viel Menschen heutzutage eine große Herausforderung. Zumindest, wenn es darum geht, diese Atmung über einige Zeit durchzuhalten – und wie immer braucht das Einsetzen der Wirkung ihre Zeit. Manche Yoga-Stile nutzen das Prinzip von Krishnamacharya der völligen Kopplung von Atmung und Bewegung, etwa Viniyoga und Parayoga. Dabei wird zumindest als Einstieg immer Samavritti Pranayama in Bewegung angewandt. Eins zu eins Ein- und Ausatmung gekoppelt an Bewegung. Die Kopplung an die Körperbewegung – beispielsweise das Heben der Arme mit der Einatmung und das Senken mit der Ausatmung – macht es uns einfacher, das Prinzip von Samavritti in Aktion zu „erspüren“. Auf diese Weise lässt sich Samavritti-Atmung als primäres Atemmuster für das ganze Leben üben. In diesem Sinn ist Samavritti fortgeschrittenes Pranayama
In welchem Kontext verstehen und üben wir Pranayama?
Was macht eine fortgeschrittene Übung aus? – Erwähnt man das Wort Pranayama, denken wir meist sofort an Kumbhaka, das Anhalten des Atems in Fülle oder Leere. Heißt dann fortgeschritten, den Atem lange anhalten zu können? Es gibt eine Menge Yoga-Texte, die genau das oder heftige Forcierungen von nicht alltäglichen Atemrhythmen fordern. Diese Übungen haben unmittelbar das Ziel, energetische Zustände zu erreichen, von denen es fraglich ist, ob diese uns Alltags-Yogis des 21. Jahrhunderts unterstützen. Interessanterweise sind es gerade diese Übungen, denen wir nacheifern, besonders, wenn wir mit Ehrgeiz gesegnet oder bestraft sind. Doch wohin führen uns diese Übungen, wenn wir sie aus ihrem spezifischen und oft sehr spirituellen Kontext reißen? Wenn wir sie aus der Stille grandioser Weite der Bergwelt des Himalaya in unser einengendes Großstadtleben des 21. Jahrhunderts transportieren? Vielleicht wäre es heute zielführender, das Wort Pranayama in einer „milderen“ Übersetzung zu interpretieren?
„Pranayama“ ist streng grammatikalisch ein Kompositum aus Prana und Ayama. Jedes Sanskrit-Wort hat je nach Kontext viele Bedeutungen. Prana bedeutet „Lebensenergie“, aber auch „Atem“. Ayama bedeutet gleichermaßen „Beschränkung“ oder „Expansion“, was Pranayama unterschiedlich auslegt. „Beschränkung“ trifft die drastischeren Pranayama-Übungen. Doch was ist mit traditionellen yogischen Atemübungen, die ohne Atemanhalten auskommen? Gelegentlich werden sie als Vorstufen angesehen, also kein „echtes“ Pranayama. Doch wäre nicht eine „mildere“ Interpretation, wie in manchen mündlichen Traditionen, heute hilfreicher? Pranayama als Kompositum aus Prana und Yama (mit relativierender Vorsilbe (langes) a- gleich „nahe“). Yama hat knapp 50 Bedeutungen, darunter: „Bewegung“, „Fortschritt“, „eine Anleitung einhalten“ und „etwas kontrollieren, um ein positives Resultat zu erreichen“, alle nahe am Gedanken der „Expansion“. Vielleicht wäre es heutzutage konstruktiver, Pranayama statt als „Beschränkung“ oder „Zurückhalten“ von Atem als „das Einhalten einer Anleitung zur Kontrolle der Atembewegung für einen positiven energetischen Effekt“ zu verstehen – nämlich als das Zurechtrücken der „ver-rückten“ Energien in uns?
Sympathikus und Parasympathikus werden ausbalanciert
In Samavritti-Atmung tauchen wir energetisch in die Dominanz von Samana, dem Aspekt von Prana, der energetische Balance bedeutet. Samana liegt allen Heil- und Regenerationseffekte zu Grunde. Das hört sich esoterisch an, wenn man mit den Konzepten der Prana–Vayus nicht vertraut ist. Man muss jedoch noch nicht einmal in das Verständnis der Prana–Vayus, was die Samavritti-Atmung betrifft. Interessanterweise gibt es heute eine Menge medizinischer Literatur genau dieser Atmung, wenn auch nicht unter diesem Namen. Eine spezielle Variante davon wird nämlich in der sogenannten Herzkohärenz-Meditation angewandt. Einatmen und Ausatmen in einem Rhythmus von ungefähr fünf Sekunden. Durch diese Atmung bringen wir uns in eine wohltuende physiologische Gleichschaltung der Aktivitäten von Herz, Gehirn und dem ganzem und dem Autonomen Nervensystem. Letzteres ist im Grunde der pranische und physiologische Regelungsknopf, an dem wir drehen, wenn wir in Atemübungen gehen. Im Falle von Samavritti werden Sympathikus und Parasympathikus so ausbalanciert, dass sie in einer gleichförmigen Weise miteinander Schwingen. Das ist eigentlich unser natürlicher physiologischer Atem- und Gleichgewichtszustand, den wir von alleine heutzutage durch die nicht-abreißende Flut externer Stimuli kaum mehr finden. Dieser Zustand ist es allerdings, der uns dann gezielt erlaubt, tiefer in die Ruhe zu gehen, sozusagen als Voraussetzung für tiefe Entspannung und Ruhe. Oder auch genau das Gegenteil, nämlich mit positiver Stimulanz des Sympathikus – ohne Stress – in Aktivität oder sogar freudvolle Höchstleistung zu gehen. Der Schlüssel liegt im Gleichgewicht – Samana. Ein Weg zu Samana führt über Samavritti Pranayama und seine Varianten, etwa die Herzkohärenz-Übungen.
Samavritti ist vielleicht das größte Geschenk von Mutter Natur an uns – allerdings ein Geschenk, das wir uns erarbeiten müssen. Leider lehrt uns gewöhnlich niemand, dieses Geschenk auszupacken. Weil wir es nicht als Kinder ans Herz gelegt bekommen, werden wir zu Atemsklaven unserer mentalen Aktivität. Atem und Geist sind energetische siamesische Zwillinge. Der eine tut, was der andere bestimmt. Doch wer bestimmt denn meist im modernen Leben des 21. Jahrhunderts? – Wenn wir nicht gerade körperliche Leistungen von uns fordern und dadurch ein regelmäßiger Atemrhythmus entsteht, überlassen die meisten von uns das Feld ihrem Geist, der seine Unregelmäßigkeit ganz regulär über die vegetative oder psychosomatische Kopplung seinem Zwilling – dem Atem – aufzwingt.
Für mich ist dieses Samavritti-Geschenk unserer Mutter Natur die fortgeschrittenste Atemübung. Hier schließe ich mich Swami Rama an, der immer und immer wieder versprach, fortgeschrittenes Pranayama zu lehren und dann bei Samavritti landete. Die Herausforderung besteht nicht in den technischen Aspekten, sondern darin, dass wir uns möglichst oft in diesen Atemrhythmus bringen. Es erfordert also eine gehörige Portion Achtsamkeit, um überhaupt zu bemerken, wann ein bewusster Fokus darauf nötig ist – wenn uns der Atem wieder einmal entgleitet oder vielmehr von unserer mentalen Unruhe in die Atemwirren gezogen wird. Das Tolle an dieser Art Atem-Achtsamkeit ist, je mehr wir diesen Samavritti-Rhythmus nutzen, umso mehr erinnert sich unser Körper daran, dass dies das versprochene „Atem-Paradies“ ist und um so öfter nutzt er Samavritti ganz von alleine. Das ist Prana–Yama oder „Atem-Beherrschung“ im positivsten Sinne. Auch ein medizinisch-physiologischer Aspekt ist damit verbunden, der uns zu denken geben sollte: Schon vor zweitausend Jahren sprachen Schriften aus der traditionellen chinesischen Medizin und dem Ayurveda davon, dass wenn die Atmung immer unregelmäßiger wird und Atomstopps ohne erkennbares Muster einsetzen, ernsthafte gesundheitliche Probleme bestehen. Soweit wollen wir es doch nicht kommen lassen, oder?
Die Praxis von Samavritti-Pranayama
Ausführung
Mentaler Fokus
Tipps & Tricks
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Hinweis: In einem sehr schönen Interview für das Agni-Magazin erklärt uns Pandit Rajmani Tigunait die beiden gundlegenden Pranayama-Arten: Die meditativen Pranayamas (die weitgehend auf Samavritti aufbauen) und die energetischen Pranayamas aua dem Hatha Yoga. Das Interview findest Du hier.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Yoga Aktuell 109 (2018). Michael Nickel, der Autor dieses Beitrags und Gründer-Verleger des Agni Verlag, bietet Yoga- und Meditations-Kurse und -Stunden in atemgekoppelten Stil von Parayoga an, die Dich in die Ruhe führen. Alle Kursangebote von Michael laufen auch online. Siehe www.santosha-yoga.de für weitere Infos.