Yantras für die Meditation – Heilige Geometrie und ihre Beziehung zu Mantra

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Lesedauer 9 Minuten

Von Rolf Sovik

Kommt dir das bekannt vor? „Ich genieße die Meditation – und die Achtsamkeit auf den Atem und das Mantra, das ich nutze, sind hilfreich, aber ich bin visuell orientiert. Gibt es einen visuellen Rahmen, den ich in meine Praxis einbauen kann und der mir hilft, konzentriert zu bleiben?“

Das ist keine ungewöhnliche Frage, doch es kann schwierig sein, sie zu beantworten. Wenn wir Techniken aus verschiedenen Traditionen zusammenfassen, könnten wir alle möglichen Bilder verwenden: Thangkas aus dem tibetischen Buddhismus, klassische christliche Ikonen, Bilder der Chakras, Bilder von Lieblingsgottheiten oder sogar Kerzen. Wir könnten uns einen ruhigen Strand, eine Waldlichtung oder einen ruhigen Rückzugsort im Himalaya vorstellen. Das sind genau die Art von inspirierenden Bildern, mit denen wir unsere Häuser und Meditationsräume schmücken. Doch diese Bilder willkürlich in die Meditation einzubringen, ist nicht sehr hilfreich und kann sogar störend sein.

Glücklicherweise hat die Wissenschaft von Mantras eine Schwesterwissenschaft, die sie visuell untermauert: die Wissenschaft von Yantra. Yantras sind geometrische Diagramme, die oft aus einem kleinen Punkt bestehen, der von Kreisen, Dreiecken und Quadraten umgeben ist, die jeweils eine symbolische Bedeutung haben. Diese Bilder können verwendet werden, um unseren meditativen Fokus zu stärken.

Die Symbolik eines Punktes

Beginnen wir mit dem Bild eines Punktes. Erfahrene Praktizierende im Yoga beschreiben einen Punkt als ein Tor, das vom Unsichtbaren zum Sichtbaren führt. Stellen wir uns vor, wir schauen entlang eines Bahngleises in Richtung des Horizonts. Zuerst sieht man nichts außer dem Zusammenlaufen der Gleise selbst. Dann erkennt man in der Ferne einen Punkt, der allmählich größer und größer wird. Bald sieht man die Umrisse einer Lokomotive und man macht sich bereit, aus dem Weg zu springen. Aus dem scheinbar leeren Raum ist ein Objekt entstanden, das allmählich zu einem Zug wird.

Aus der Sicht der yogischen Metaphysik haben alle sichtbaren Dinge den Weg vom unmanifesten zum manifesten Daseinszustand zurückgelegt. Babys, Gebäude und kreative Ideen entstehen aus dem Unsichtbaren und manifestieren sich. Sogar das Bewusstsein selbst entspringt dem Unsichtbaren, und das Ergebnis seiner Manifestation ist, dass jeder von uns ein individuelles Bewusstsein besitzt.

Die Yoga-Schriften beschreiben das individuelle Bewusstsein mit den Worten, dass es wie eine Welle ist, die aus einem Ozean reinen Bewusstseins entspringt. Die beiden sind von Natur aus und auf ewig miteinander verbunden. Und in einem Yantra wird diese Verbindung zwischen endlicher und unendlicher Realität, zwischen individuellem Bewusstsein und reinem Bewusstsein, durch einen Punkt symbolisiert.

Die Weisen erinnern uns daran, dass wir auf unserer meditativen Reise vom individuellen Bewusstsein zurück zum reinen Bewusstsein durch diesen zentralen Punkt reisen. Das Thema findet sich im Yoga Sutra, Patanjalis klassischem Handbuch über Yoga, wo er die Meditation als einen Prozess beschreibt, bei dem wir lernen, unser Bewusstsein auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren. Mit zunehmender Vertiefung der Meditation dient dieser Fokuspunkt als Dreh- und Angelpunkt, um den Fluss der Aufmerksamkeit nach innen zu lenken. Der Lehrer Shankara aus dem achten Jahrhundert betont ebenfalls die Bedeutung der Konzentration auf einen Punkt.

Wenn dein Geist in der Meditation zur Ruhe kommt, wird seine Oberfläche immer stiller.

Um die einpünktige Konzentration zu üben, kann man dieses Bild zur Unterstützung der Konzentration verwenden. Man stelle sich einen Teich vor, dessen Oberfläche so ruhig ist, dass er nicht die kleinste Welle hat. Wenn eine Luftblase vom Boden aufsteigt und die Wasseroberfläche durchbricht, erzeugt sie ein kreisförmiges Muster aus kleinen Wellen, die sich sanft über den ganzen Teich ausbreiten. Dieser Teich ist unser Geist. Wenn unser Geist in der Meditation zur Ruhe kommt, wird seine Oberfläche immer stiller.

Bei der Mantra-Meditation stellen wir uns vor, dass wir genau an dem Punkt ruhen, an dem das Objekt unserer Konzentration, unser Mantra, zum ersten Mal ins Bewusstsein aufsteigt. Das Mantra ist in diesem Fall die Blase, die an die Oberfläche des Bewusstseins aufsteigt. Unsere Aufmerksamkeit ruht im Klang des Mantras an dem Punkt, an dem es zum ersten Mal die Oberfläche unseres Bewusstseins erreicht. Die Wellen dieses Klangs breiten sich in unserem Geist aus, doch wir achten weder auf ihre Bewegungen noch auf das Kommen und Gehen der anderen Gedanken. Was andere geistige Aktivitäten als den Klang des Mantras angeht, so reagiert man schlicht nicht. Wenn man sich mit Hilfe des visuellen Bildes im Mantra verankert hat, lässt man das Bild los und ruht einfach weiter im Mantra, in dem Punkt in der Mitte deines Geistes. Der Raum unseres Bewusstseins wird sich zunehmend mit dem Klang des Mantras füllen und vereinen.

Eine Welle aus Licht

Wenn ein Punkt in einer Dimension ausgedehnt wird, entsteht eine unendlich lange gerade Linie. Um dies in einen yogischen Kontext zu stellen, betrachten wir die folgende Geschichte aus den Puranas, den frühen Texten der indischen Mythologie. Einst, so heißt es dort, erschien vor den Göttern ein leuchtender, senkrechter Lichtstrahl. Dieser Lichtstrahl besaß eine Kraft, die selbst die natürlichen Kräfte des Windes und des Feuers ohnmächtig werden ließ. Erstaunt machten sich zwei Götter sofort auf den Weg, um den Anfang und das Ende des Lichts zu finden, doch die Suche, die viele Zeitalter dauerte, blieb erfolglos. Erst nachdem die Götter durch diese unendliche Größe und Macht demütig geworden waren, offenbarte sich der Lichtstrahl als die Manifestation des reinen Bewusstseins.

Es gibt eine Parallele zwischen dieser Geschichte und der Praxis der Meditation. Im menschlichen Körper ist die vertikale Welle des Lichts die Wirbelsäulenachse. Ohne diese Säule aus lebendiger Energie kann keine der weniger wichtigen Funktionen der menschlichen Physiologie funktionieren. Bei der Meditation wird der Körper entlang der Wirbelsäulenachse ausgerichtet. Das hilft dabei, ein verfeinertes inneres Bewusstsein zu erwecken.

Dreiecke und Dreifaltigkeiten

Die archetypische Zahl Drei wird im Yantra-System durch die Form eines Dreiecks symbolisiert. Die drei Punkte, die die Winkel des Dreiecks bilden, stehen für eine beliebige Anzahl von Trinitäten, wie z.B. Anfang, Mitte und Ende; Subjekt, Objekt und Mittel des Wissens; Brahma, Vishnu und Shiva; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Erde, Firmament und Himmel; oder Handelnder, Handlung und Mittel zur Ausführung der Handlung.

Zu den wichtigsten der yogischen Trinitäten gehören die drei Gunas – die drei Qualitäten oder „Stränge“, aus denen das Universum gewoben ist und die jeden Aspekt der manifesten Realität durchdringen. Sie haben die Sanskrit-Namen Sattva (Licht), Rajas (Bewegung) und Tamas (Dunkelheit) und sie interagieren miteinander, um endlose Permutationen zu schaffen, die die grenzenlosen Formen von Materie und Geist darstellen. Die menschliche Persönlichkeit besteht zum Beispiel aus einem Körper (dem tamasischen Element der Persönlichkeit), inneren Energien (dem rajasischen Element der Persönlichkeit) und einem Geist (dem sattvischen Element der Persönlichkeit), wobei die vorübergehenden Zustände des Geistes tamasisch (dunkel, träge, faul), rajasisch (voller Verlangen, Aktivität und Aufregung) oder sattvisch ( gelassen, ruhig, ausgeglichen) sein können. Und so ist es mit allem.

Die Kraft der Schöpfung, deren Wesen diese drei Qualitäten verkörpert, wird Shakti (Kraft, Energie) genannt. Ihre Gefährte, das reine Bewusstsein, wird Shiva (glückverheißend, wohlwollend) genannt. Aber Shiva und Shakti sind von Natur aus eins, wie Feuer und Licht. Ihre Beziehung wird manchmal symbolisiert, indem man einen Punkt (Shiva) in ein Dreieck (Shakti) setzt. Es ist die Vereinigung dieser beiden Prinzipien, die die gesamte Schöpfung in Form einer tiefen und dauerhaften Freude durchdringt.

Dreiecke können nach oben oder nach unten zeigen. Diejenigen, die nach oben zeigen, stehen für aufsteigende Energie und Aufwärtsbewegung im menschlichen Körper. Sie stehen für Streben und Anstrengung. Sie stehen auch für Feuer, denn sie ähneln den aufsteigenden Formen von Flammen. Dreiecke, die nach unten zeigen, stehen für göttliche Gnade. Sie stehen auch für Soma, die Nahrung für die Feuer des Lebens. Im Herzzentrum verschmelzen diese Dreiecke zu zwei ineinander verschlungenen Dreiecken: das nach oben gerichtete Dreieck steht für Shiva und das nach unten gerichtete Dreieck für Shakti (erfüllt von Gnade).

Der Körper als Yantra: Eine Meditation

Wenn man sich zur Meditation im Schneidersitz oder einem ähnlichen Sitz niederlässt, kann man dreieckige Formen in seinem eigenen Körper erkennen. Die beiden Knie und die Basis der Wirbelsäule bilden eine dreieckige Basis, und auch der ganze Körper bildet ein nach oben gerichtetes Dreieck. Eine detailliertere Analyse der nach oben gerichteten Dreiecksformen des Körpers stellt den Körper als Tetraeder dar, einen vierseitigen geometrischen Körper.

Diese und andere yantrische Bilder sind im Körper zu finden, wenn er sich in einer meditativen Haltung befindet. Der Mensch ist also die Verkörperung eines Yantras. Wenn man im Schneidersitz oder ähnlichem meditiert, ist man das Bild, das das Yantra visuell abbildet.

Ein Mensch ist also die Verkörperung eines Yantras.

Wie kann man diese yantrischen Bilder in der Meditation nutzen? Hier ist eine einfache und doch reizvolle Meditationspraxis, bei der du mit dem Atem, einem visuellen Bild (einem Lichtfaden) und einem Mantra (Soham) die Mittelachse deines Körpers auf und ab wanderst:

  • Setze dich zur Meditation hin und schließe deine Augen. Richte deine Haltung so ein (auch wenn du nicht im Schneidersitz bist), dass du dir deine Wirbelsäule als zentrale Achse vorstellst, die von unten nach oben ausgeglichen ist.
  • Stell dir deinen Körper in Form eines nach oben gerichteten Tetraeders vor. Lass das Innere dieser Form sanft mit den Flammen der Wachsamkeit und Energie tanzen.
  • Entspanne deinen Körper und lass deinen Atem dich reinigen und nähren, während er aus- und einströmt.
  • Wenn du bereit bist, lenke deine Aufmerksamkeit auf den Atem in den Nasenlöchern. Spüre den Atem dort für einige Zeit. Füge das Mantra Soham hinzu, sobald deine Aufmerksamkeit auf den Atem gleichmäßig wird – beim Einatmen So und beim Ausatmen Ham.
  • Verlagere deine Aufmerksamkeit auf das Zentrum der Augenbrauen. Atme nun mit dem Laut Ham nach unten zur Basis der Wirbelsäule aus und mit dem Laut So nach oben zum Scheitel ein. Atme so, als würdest du entlang der Wirbelsäulenachse, die du dir als fadenförmige Lichtwelle vorstellst, auf und ab wandern. Fahre einige Minuten lang damit fort und passe deine Haltung so an, dass sich die Wirbelsäule mit Leichtigkeit selbst trägt.
  • Wenn du bereit bist, richte deine Aufmerksamkeit auf das Ajna Chakra, das Augenbrauenzentrum. Lasse deine Aufmerksamkeit im Klang des Mantras Soham ruhen und konzentriere dich allmählich auf einen einzigen Punkt – den Punkt, an dem der Klang zuerst in deinem Geist auftaucht. Während du deine Aufmerksamkeit auf das Mantra richtest, lass seinen Klang den Raum deines Geistes füllen.

Bleib so lange sitzen, wie du willst, und lass die visuellen Bilder allmählich hinter dir und ruhe in der Konzentration auf den Klang des Mantras.

 


Dieser Artikel erschien zuerst in der Wisdom Library des Himalayan Institute, USA. Deutsche Übersetzung von Michael Nickel und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Himalayan Institute.

 

Rolf Sovik
Rolf Sovik

Rolf Sovik, Präsident und Spiritueller Leiter des Himalayan Institute, Doktor der Psychologie, begann 1972 sein Studium von Yoga und Meditation. Er ist Schüler von Swami Rama und Pandit Rajmani Tigunait und hat unter ihrer Anleitung die Lehren der Himalaya-Tradition erforscht. Er hat Abschlüsse in Philosophie, Musik, Östliche Studien und Klinische Psychologie. Derzeit lebt er mit seiner Frau Mary Gail am Himalayan Institute.

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